Wer hilft mit, dass die Deutschen zu ihrer Würde finden?
von Karl Müller
Die deutsche Zeitung «junge Welt» hat am 29. April einen Vorabdruck aus dem neuen Buch der ehemaligen Grünen-Politikerin und heute unabhängigen Publizistin Jutta Ditfurth veröffentlicht. Das Buch trägt den Titel «Zeit des Zorns» (ISBN 978-3-426-27504), und der veröffentlichte Buchauszug ist eine bittere Konfrontation der heutigen Realität unseres Finanz- und Wirtschaftssystems mit den einstigen Idealen des Sozialismus, aber auch des liberalen Bürgertums. Ein Auszug über die sozialen Errungenschaften und warum es diese nach Meinung der Autorin überhaupt gegeben hat. Und warum es sie heute nicht mehr gibt.
Aber eben eine bittere Konfrontation, weil er keinen Ausblick formuliert … bis auf die Ziele, «ein Leben ohne Ausbeutung, Diskriminierung, Hunger und Krieg» … «eine Gesellschaft, die auf Solidarität aufbaut und auf sozialer Gerechtigkeit, in der es keine Ausbeutung und keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt, eine Gesellschaft, in der wir basisdemokratisch entscheiden, wie wir leben und arbeiten wollen».
Und dann schreibt Jutta Ditfurth: «Das ist ein tollkühner Plan. Und wir müssen alles selbst machen.»
«Energischere Massnahmen als Mahnwachen und Kundgebungen» seien notwendig: «eine soziale Revolution».
Aber am Anfang ihres Textauszuges schildert sie eine Begegnung mit einem Busfahrer. Der hatte gesagt: «Schade, dass es heute keine Revolutionen mehr gibt», und dann erfährt der Leser, dass dieser Busfahrer durch die derzeitige Weltwirtschaftskrise sein Reihenhaus verloren hat. Und: «Sein Hass ist riesengross.»
Am 30. April hat Annelie Buntenbach, Mitglied des geschäftsführenden DGB-Vorstandes, also des Dachverbandes nahezu aller deutschen Gewerkschaften, in der deutschen Tageszeitung «Neues Deutschland» auch davon gesprochen, dass sich die Krise «nur solidarisch und gerecht» bewältigen liesse, aber dann vor allem die Politik gefordert: «Die Politik hat es in der Hand.»
Indes titelte am selben Tag selbst die «Frankfurter Rundschau»: «Ein einziger Berliner Scherbenhaufen». Der neue deutsche Wirtschaftsminister Karl-Theodor zu Guttenberg von der CSU hat die neueste Regierungsprognose zur Wirtschaftsentwicklung in Deutschland vorgestellt. Gerechnet wird derzeit mit einem Rückgang des Bruttoinlandsproduktes um 6 Prozent im Jahr 2009, das sind rund 140 Milliarden Euro weniger Wertschöpfung in Deutschland. Die Zahl kann noch höher werden; denn die deutschen Exporte tragen extrem viel, nämlich rund 50 Prozent, zum deutschen Bruttoinlandsprodukt bei; und diese Exporte brechen um 20, 30 und mehr Prozent weg.
Bis Ende 2010 soll es im Jahresdurchschnitt rund 1,35 Millionen mehr Arbeitslose in Deutschland geben, 450 000 in diesem und nochmals 900 000 mehr im kommenden Jahr. Die Gesamtzahl steigt dann, selbst nach den sehr beschönigenden offiziellen Statistiken («Kommentierte Eckwerte-Tabelle zur Frühjahrsprojektion 2009 der Bundesregierung»), auf 4,6 Millionen im Jahresdurchschnitt.
20 bis 30 Milliarden Euro weniger Steuereinnahmen als bislang geplant für das Jahr 2009 sind zu erwarten … und eine noch nie dagewesene Neuverschuldung von 70 bis 80 Milliarden Euro allein für den Bundeshaushalt.
Unterdessen werden diejenigen, die vor sozialen Unruhen in Deutschland warnen, weiter als Schwarzmaler abgetan. Man dürfe Unruhen erst gar nicht herbeireden, in Deutschland sei so etwas auch gar nicht zu erwarten. Die Deutschen seien «vernünftig», und ausserdem sei die deutsche Marktwirtschaft «sozial»: «Ja, also das ist natürlich irgendwie dummes Geschwätz, das muss man sagen. Wir haben einen Sozialstaat, der in der Tat sich um alle Menschen kümmert. Wir haben ein politisches System, das dafür sorgt, dass alle mitgenommen werden und dass solche konjunkturellen Dellen, die jetzt weltweit stattfinden, auch zu einem Höchstmass abgefedert werden. Ich halte überhaupt nichts davon, jetzt hier eine Krise nach der anderen an die Wand zu malen, sondern wichtig ist es, den Menschen jetzt Vertrauen zu geben, zu sagen, Politik handelt, Politik tut das möglichste, um bald eine Trendwende herbeizuführen.» (CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk am 30. April)
Jutta Ditfurth schreibt: «Staatliche Obrigkeit und Kapital ahnen, dass es in den Köpfen Hunderttausender, wenn nicht von Millionen Menschen brodelt. Aber Politiker wie Manager sind so weit vom normalen Leben der Menschen entfernt, dass sie vom Ausmass der grossen Wut nichts wissen.»
Wer also hilft mit, dass die Deutschen zu ihrer Würde finden?
Wie kann es gelingen, dass sich die Menschen in Deutschland – schon um der Sache willen – wieder annähern, dass die Polarisierungen nicht noch weiter eskalieren, dass die Fronten nicht noch mehr verhärten, dass die Zahl der Krisenopfer nicht immer weiter wächst?
Dass die Menschen endlich voneinander wissen, was der andere denkt, was ihn bewegt? Dass sich jeder in Deutschland besser verstanden und mehr zu Hause fühlen kann? Dass endlich ein echter Dialog entsteht, in dem keiner ausgeschlossen wird? Dass alle ehrlich und umfassend informiert werden. In dem alle nach Lösungen suchen, die dem Gemeinwohl dienen – also dem natürlichen Wohl aller?
Und das ist dringend nötig – es soll doch keiner so tun, als wenn er schon jetzt den Weg aus der Sackgasse der vergangenen 20 Jahre wüsste.
Wer also hilft mit, dass bei jedem in Deutschland die Bereitschaft wächst, Verantwortung für die ganze Gemeinschaft zu übernehmen? In der nicht mehr nur ein paar wenige entscheiden, welchen Weg das Land künftig geht? Ein Land also, das wirklich freiheitlich, gerecht, demokratisch, solidarisch und friedlich ist?
Ist das ein tollkühner Plan? Eigentlich nicht. Es ist ein menschlicher Plan. Das heisst, ein Plan, der davon ausgeht, dass jeder Mensch gut und schlecht erkennen, sich für das Gute entscheiden und dann auch das Gute tun kann. Eigentlich ganz einfach. •
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