Ungarn
Unter der Fahne der Faschisten
Wie tief kann ein Land stürzen? Ungarn ist so gut wie bankrott, Rechtsradikale überfallen "Zigeuner, Juden und Fremdherzige", kaum jemand stellt sich ihnen entgegen
Der Philosoph hatte eingekauft und seine Wohnung fast erreicht. Es war helllichter Tag im Herzen von Budapest. Durch die Straßenschlucht aus der Gründerzeit kam ihm ein Trupp der rechtsextremen Ungarischen Garde entgegen. Im Gleichschritt. Schwarze Uniformen, Schirmmützen, Springerstiefel. Halstücher in den rot-weiß gestreiften Farben, die zuletzt die magyarischen Faschisten der Nazizeit trugen. Der Zugführer kommandierte: »Eins! Zwei! Eins…!« Hob den Arm und brüllte zum Philosophen hinüber: »Heil Hitler, Herr Tamás, wie geht es?«
Der jüdische Intellektuelle Gáspár Míklós Tamás ist aus Fernsehdiskussionen nicht nur den Ungarn bekannt. Auch Franzosen und Italiener, Rumänen und Slowaken schätzen seine geschliffenen Analysen. Budapests radikale Kohorten aber zählen ihn zu den »Fremdherzigen«, die den Volkskörper »verunreinigen«. Auf der Startseite der Website »Kuruz Info« steht sein Foto im Rahmen eines Grabkreuzes. Die Homepage listet Juden und andere »Feinde« auf: Namen, Adressen, Telefonnummern, Wochenendhäuser, Bekanntenkreise.
Die Juden in den Städten – Budapest zählt etwa 200.000 jüdischstämmige Bürger – sind bisher noch glimpflicher davongekommen als die Roma auf den Dörfern. Seit zwei Jahren landen immer wieder Molotowcocktails auf ihren Dächern. Auf Familien, die aus den brennenden Häusern fliehen, wird geschossen; hier stirbt ein Vater mit seinem Sohn, dort eine Mutter mit ihren Töchtern. In den vergangenen Wochen ist ein Dutzend Brandsätze gegen Wohnungen von Politikern der regierenden sozialistischen Partei MSZP geflogen.
»Die Ungarische Garde ist hart wie die geballte Faust, scharf wie das Schwert«
Soll das Ungarn sein, das Land der legendären Erinnerungen? Das Reiseziel der ersten Wirtschaftswundertouristen, die Lieselotte Pulvers Piroschka in die Puszta folgten? Der sozialistische Gulaschstaat, den die schöpferischen und scheinbar so fröhlichen Freisassen des Sowjetimperiums in eine Mikrowelt des handverputzten bürgerlichen Wohlstands umflickten? Dessen Pfadfinder zwischen Kommunismus und Kapitalismus im Mai vor genau 20 Jahren die Grenzbefestigungen zu Österreich abbauten und damit die Schleusen für die Fluchtwellen der DDR-Bürger öffneten?
Es war einmal, dieses Ungarn. Heute ist Budapest so sehr vom Absturz bedroht wie die bröckelnden Engel in den neoklassizistischen Hinterhöfen seiner unsanierten Viertel jenseits des Stadtkerns. Den Staatsbankrott konnte im Oktober nur eine schnelle Nothilfe von 20 Milliarden Euro verhindern. Internationaler Währungsfonds (IWF), Europäische Zentralbank und EU schnürten das größte Kreditpaket, das sie in der jetzigen Krise vergeben haben. Das Weltfinanzdebakel hat nur grell beleuchtet, wie ausgeliefert Ungarns Wirtschaft und wie deprimiert seine Gesellschaft ist. Die Tragödie, die mit dem Transformationsprozess über dem Land heraufgezogen ist, zeichnete sich schon früher ab. Es war gerade der Systemwechsel, der die knapp zehn Millionen Magyaren bald spüren ließ, wie arm ihr Land ohne alle Rohstoffe und mit einem Berg von Auslandsschulden in Wahrheit ist und bereits vor der Wende war. Schon die kommunistische Führung um János Kádár hatte ihre Landsleute auf Pump konsumieren lassen, um den Volksaufstand von 1956 vergessen zu machen – den einzigen vor 1989, der die sowjetischen Panzer kurzfristig vertrieb.
Seit 1989 überrollten die westlichen Multis auch noch jene frühen Ich-AGs der ungarischen Privatisierung, die zuvor auf den halb verbotenen Pfaden zwischen Sozialismus und Kapitalismus aus Blech folkloristisches Blattgold gehämmert, aus grauen Eckhäusern nostalgisch schimmernde Fin-de-Siècle-Cafés gezaubert hatten. Gefragt waren nun der Produktmanager, der Controller, der Broker, vielsprachig, unter 30. Budapests postkommunistische Elite wickelte die Integration in die EU ab, kümmerte sich um die alten Netzwerke und die neuen Geschäfte, nicht aber um die eigene Gestaltung des Landes. So erfuhr die Mehrheit der Bevölkerung die Wiedervereinigung Europas mehr und mehr als ein Stück Selbstaufgabe.
Doch wirtschaftlicher Niedergang allein erklärt noch nicht den Einbruch des Rechtsradikalismus in die Gesellschaft. In Ungarn kommt die Manipulation der Geschichte hinzu. Sie hat leichtes Spiel mit den Magyaren, die einst aus dem Ural als Spätankömmlinge in Europa einwanderten und sich später von den mächtigeren Nachbarn ausgesperrt fühlten. Heute wandert ein großer Teil der Bevölkerung durch einen Irrgarten von Mythen in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg ab.
Dessen Ende hatte die Verlierer an der Seite Österreichs ungleich härter getroffen als die Deutschen mit dem Versailler Vertrag. Das Abkommen von Trianon nahm ihnen zwei Drittel des Territoriums und über die Hälfte der Bevölkerung. Die Hoffnung auf Rückgewinnung der verlorenen Gebiete führte das Land unter seinem Reichsverweser Míklós Horthy an die Seite Hitlers.
In jener Zwischenkriegszeit entstand die nationalistische Ideologie des völkischen Magyarentums. Liberale und Kommunisten wurden als Wurzel allen Übels, die Juden als Hauptgefahr für die ungarische Kultur gebrandmarkt. Das sehen mehr und mehr Menschen jetzt von Neuem so. Horthy erscheint ihnen wieder als einer der größten Ungarn der Historie. Die Geschichte soll Selbstschutz und Abwehrkampf legitimieren.
»In Deutschland«, sagt der renommierte Finanzwissenschaftler László Lengyel, »kennt und schätzt man heute nur noch die Repräsentanten einer schon vergangenen Kultur wie die Schriftsteller Eszterházy, Nádas oder Dalos. Die nachgewachsene Generation streift durch einen Wald ethnischer Legenden. Zugespitzt formuliert: So mancher Jugendliche denkt, dass es zu Trianon im vergangenen Jahr kam und dass die Schuld daran der gerade zurückgetretene sozialistische Regierungschef Ferenc Gyurcsány trägt.«
Wirrköpfe, Glatzen, autonome Gewalttäter marschieren die rechten Ränder Europas überall ab. Doch in den meisten Ländern halten sie Bürgerinitiativen und Rechtsregeln unter Quarantäne. In Ungarn nicht. Es gibt keine organisierten Proteste, keinen demokratischen Konsens gegen sie. Die Grenzen zwischen Rechtsradikalen und der konservativen Bevölkerungsmehrheit verlieren sich im Sumpf rassistischer und nationalistischer Blüten. Der populistische Oppositionsführer Viktor Orbán, dem die nächsten Wahlen eine rechtskonservative Zwei-Drittel-Mehrheit bescheren könnten, hat in den vergangenen Jahren die Bürger gegen das Parlament ausgespielt, um mithilfe der Straße die sozialliberale Koalition zu stürzen. Nicht wenige Pfarrer und Priester haben sich ihm angeschlossen. Kein Gesetz bestraft Hasstiraden, weil in der neuen Verfassung nach 1989 die Meinungsfreiheit über die Menschenwürde gestellt worden ist. »Damals, nach den Jahren der Zensur, war das zu begrüßen«, sagt der Ombudsmann Ernö Kallai, der die Rechte der 13 Minderheiten vertritt und selbst aus einer Roma-Familie stammt, »heute ist es beängstigend überholt.«
Am 18. April, einen Tag vor dem Holocaust-Gedenktag, marschierte ein Trupp der Ungarischen Garde unter Polizeischutz zur Deutschen Botschaft auf die Burg hinauf. Das größte Transparent an der Spitze des Zuges spielte auf das Tor in Auschwitz an: »Wahrheit macht frei!« Vor den 200 Gardisten, Skinheads und Sympathisanten an der abgesperrten Botschaft verlas der Führer der Schar eine Petition mit dem Tenor: Nichts ist wahr am Holocaust.
Gábor Vona, 30-jähriger Produktmanager für Sicherheitstechnik, hat die Garden 2007 als paramilitärischen Arm der rechtsradikalen Partei Jobbik gegründet. Auch diese »Bewegung für ein besseres, rechteres Ungarn« leitet Vona. Die schwarzen Uniformjacken, die sich die mehrheitlich armen Gardisten selbst kaufen müssen, stammen vom Budapester Chinesenmarkt. Die Montur ist für militärische Rangabzeichen vorgesehen, die Mitglieder sind aufgerufen, das Schießen zu lernen. Lajos Für, ehemals Verteidigungsminister der ersten christlich-konservativen Nachwende-Regierung, überreichte jedem frisch vereidigten Gardisten bei der Gründungszeremonie 2007 eine Urkunde. Ziele und Losungen der Garde, die sie bei ihren Märschen durch Stadtbezirke und Dörfer mit Roma-Bevölkerung verkünden, lauten wörtlich oder sinngemäß: Roma (ungarisch: Cigányok) zurück nach Indien; Siebenbürgen, die serbische Vojvodina und andere verlorene Gebiete zurück an Ungarn. Zu ihren faschistoiden Präambeln gehört: »Die ungarische Garde ist hart wie die geballte Faust, zäh wie Bast, scharf wie das Schwert.«
Zwar schrecken viele Bürger, die kaum weniger fremdenfeindlich denken, vor dem martialischen Mummenschanz denn doch zurück. Ihnen bietet sich Jobbik an. Die rechtsradikale Mutterpartei der Garde hat neben der national-konservativen Bürgerunion Fidesz und den in ein tiefes Tal abgestürzten Sozialisten als dritte Partei die Chance, jetzt einen Sitz im EU-Parlament zu gewinnen. Ihre Spitzenkandidatin ist die 1963 geborene Krisztina Morvai, Dozentin für Strafrecht an der ehrbaren Loránd-Eötvös-Universität. Bis 2004 genoss sie ein respektables Ansehen als unabhängige Expertin in der UN-Frauenrechtskommission. Seit Ungarns sozialliberale Koalition ihr Mandat nicht verlängert hat, feuert sie den Antisemitismus im Lande an.
Zur Eröffnung von Krisztina Morvais Wahlkampf in der Stadt Érd ließ Jobbik die Goj-Kolonne vorfahren: schwarzlederne Jungs auf schweren Motorrädern, die ihren röhrenden Konvoi demonstrativ nach dem hebräischen Wort für Nichtjuden benannt haben. Morvai sprach den überfüllten, verzückten Saal an, als habe sie einen Kindergarten für den Fundamentalismus zu begeistern: »Liebe Unsereine! Als christliche Juristin fallen mir um Ostern immer Szenen aus der Bibel ein. Jesus wusch die Füße seiner Jünger. Ein Zeichen von Demut. Daran fehlt es unserer Regierung … Unsere Gegner sind Erscheinungen des Satans, und wir müssen gegen die satanischen Kräfte kämpfen…« Draußen verkauften die Parteifreunde der EU-Kandidatin derweil ein T-Shirt mit dem Bild von Míklós Horthy, Hitlers Verbündeten bis 1944.
Horthys Büste steht im Budapester Zentrum, am Freiheitsplatz. Man entdeckt sie nicht gleich. Der steinerne Kopf gehört zu den Säulenheiligen an den Stufen zur großen, reformierten »Kirche der Heimkehr«. Neben Horthy ist dort auch Albert Wass verewigt, ungarischer Gendarmerie-Offizier, der nach seinen Kriegsverbrechen in Siebenbürgen in die USA fliehen konnte. Heute gehören seine Bücher über Siebenbürgen zur Pflichtlektüre eines jeden Rechten. Und der Pastor des Gotteshauses, Sohn des Bischofs der Reformierten Kirche, wettert gegen »Judeobolschewiken« und »fremdherzige« Liberale.
Von ihrer Wohnung hoch über der Donau schaut die Soziologin Mária Vársáhelyi auf ein Haus mit einem eckigen Turm. Es gehörte einst einem jüdischen Unternehmer. 1944 ließ es Adolf Eichmann für sich requirieren. Der Organisator der Judenvernichtung war in Budapest, um die Deportationen zu beschleunigen. Das gelang, nachdem die Nazis 1944 den von Hitler abrückenden Horthy zur Abdankung gezwungen hatten. Die faschistische Partei der Pfeilkreuzler übernahm die Regierung. In den letzten Kriegsmonaten ließ sie noch 437000 Juden deportieren und Tausende Kinder, Frauen und Greise in die Donau treiben, ertränken und erschießen. Sie mordete unter der rot-weiß gestreiften Fahne des ungarischen Gründergeschlechts der Arpáden, die heute auf rechten Demonstrationen weht.
Mária Vársáhelyi hat von klein auf gelernt, mit Bangen auf die Geschichte zu blicken. Ihr Vater saß lange in der Todeszelle. Er war der Informationsminister des nach dem Ungarn-Aufstand von 1956 hingerichteten Regierungschefs Imre Nagy gewesen. »Extremistische Parolen«, sagt die Soziologin, »sind heute völlig salonfähig geworden. Kein Wunder, dass die Leute inzwischen glauben, es gehöre zu ihren Bürgerrechten, ungehemmt fremdenfeindlich zu sein. Die parlamentarische Demokratie hat schon fast ihren Geist aufgegeben. Die sozialistische Partei ist zur Geisel von geschäftstüchtigen Glücksrittern geworden. Ich weiß nicht, wie sie noch verhindern will, dass Viktor Orbán bei den nächsten Wahlen eine rechtskonservative Zwei-Drittel-Mehrheit gewinnt. Dann kann er die Verfassung nach Belieben für die autoritäre Präsidialdemokratie ändern, die er anstrebt – mit einer Mischung aus Sarkozy und Berlusconi, Kaczyński und Horthy.«
Dass dem Populisten Orbán zumindest jedes Mittel recht ist, um an die Macht zu kommen, bewies er bei den Kommunalwahlen 2006, als er seine Bürgerunion Fidesz gemeinsame Kandidaten mit der rechtsextremen Jobbik aufstellen ließ. Dem einstigen Freidenkertum, das ihn nach 1989 zum Jungstar von Davos und anderen neoliberalen Kultstätten gemacht hatte, schwor er im Juli 2007 endgültig ab. »Die Ordnung ist eine gottgefällige Sache«, so verkündete er, »sie hat daher einen höheren Stellenwert als die Freiheit.«
Zum Auftakt des EU-Wahlkampfs hat Ungarns starker Mann Mitte April angedroht: Die sozialistischen Politiker, die das Land in den Ruin getrieben hätten, würden mit aller Härte zur Verantwortung gezogen. Dafür ist Orbán, der einst als Ministerpräsident selbst keineswegs vor dubiosen Geschäften zurückgeschreckt war, der Beifall fast aller Ungarn sicher. Denn der neue sozialistische Ministerpräsident Gordon Bajnai, stand zuvor im Ruf eines Oligarchen, der durch seine Geschäftsinteressen viele kleine Existenzen vernichtete. Doch vor Bajnais jetzigem Sparprogramm, das ungleich schmerzhafter als etwa Hartz IV in Deutschland ist, gäbe es auch für Orbán kein Entrinnen – egal, wie überwältigend sein Wahlsieg ausfällt.
Wie er dann auf die weiter wachsenden Aufmärsche der Rechtsradikalen reagieren würde? Kein Problem: Wie Horthy, so hat er in einer Rede wissen lassen, werde er ihnen zwei Ohrfeigen versetzen und sie nach Hause schicken. Wenn Ungarns oft tragische Vergangenheit und Gegenwart sich doch nur so einfach bewältigen ließen.
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