Sonntag, 21. Dezember 2008

Der Mensch - ein geborener Sadist?

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Der menschliche Makel

21. Dezember 2008 von Spiegelfechter - Drucken

Besondere Situationen sind es, die aus einem Menschen entweder einen Helden oder ein Monster werden lassen. Das Spannungsverhältnis zwischen Gehorsam und Gewissen ist eine solche Konfliktsituation. Angetrieben von der Frage, wie im Dritten Reich tausende normale Menschen zu kaltblütigen Mördern und Verwaltern des Massenmordes werden konnten, hat im Jahre 1962 der amerikanische Psychologe Stanley Milgram ein wissenschaftliches Experiment entworfen, das seinerzeit für Aufsehen und Schrecken sorgte. Auch in den demokratischen und liberalen Vereinigten Staaten der frühen 1960er Jahre haben sich 65% der Probanden des Milgram-Experiments in einer konstruierten Konfliktsituation zwischen Gehorsam und Gewissen für den Gehorsam entschieden und wären bereit gewesen, einen ihnen unbekannten Menschen bis zum Tode gefoltert. Aufgrund der potentiell traumatisierenden Wirkung auf die Probanden wurde eine wissenschaftliche Wiederholung des Experimentes jahrelang verboten. In diesem Jahr wurde das Experiment erstmals unter wissenschaftlichen Bedingungen in einer entschärften Version, die von der Ethik-Kommission genehmigt wurde, an der Universität von Santa Clara wiederholt. Die Ergebnisse entsprechen beinahe haargenau denen, die Milgram in der 1960ern in Yale verzeichnen konnte. Hat der Mensch nichts dazugelernt oder steckt der Gehorsam gegenüber Autoritäten so tief im menschlichen Bewusstsein, dass er unabhängig von der Gesellschaftsform und dem ethischen „Common Sense“ in Konfliktsituationen die Oberhand gewinnt?

Das Milgram-Experiment

Ist der Deutsche besonders obrigkeitshörig und aufgrund seiner Sozialisation in der ersten Hälfte bis zur letzten Jahrhunderts besonders anfällig für Kadavergehorsam? Dies war bis in 1960er Jahre wissenschaftlichee Konsens, wenn es darum ging, zu erklären, wie es dazu kommen konnte, dass sich so viele Menschen während des Dritten Reiches zu aktiven und passiven Handlangern des Holocausts machen ließen. Um der Frage, ob die These der „deutschen Besonderheit“ haltbar ist, auf den Grund zu gehen, hatte der Yale-Psychologe Stanley Milgram ein Experiment entworfen, das er in den 1960ern in verschiedenen Variationen durchführen ließ.

Beim Standardexperiment wurde über Zeitungsannoncen ein freiwilliger Proband für ein psychologisches Experiment gesucht. In der ehrwürdigen Yale-Universität wurde der Proband dann Opfer eines Theaterplots. Ein Schauspieler gab sich als zweiter Proband aus und ein weiterer Schauspieler mimte den Versuchsleiter. Bei einer fingierten Auslosung wurde dem Probanden die Rolle des „Lehrers“ in einem Versuch zugeteilt, als dessen Ziel die Erforschung des Einflusses von Schmerz auf die Lernfähigkeit vorgegeben wurde. Der Schauspieler nahm die Rolle des „Schülers“ in diesem Experiment ein und wurde in einem Nebenraum auf einen fingierten elektrischen Stuhl gesetzt. Dem Probanden wurde erklärt, dass er als „Lehrer“ dem „Schüler“ simple Assoziationsaufgaben stellen sollte und ihn bei falschen Antworten zu bestrafen hätte. Die Bestrafung sollte über einen elektrischen Schlag stattfinden, der über ein Regelpult mit angeordneten Mischhebeln ausgeführt wurde. Mit jeder falschen Antwort sollte sich die Spannung des Stromstoßes um 15 Volt steigern. Über Tonband wurden dem Probanden ab bestimmten Stromstärken zunächst Grunzen und später Schmerzensschreie aus dem Nebenraum vorgespielt, die er für echt halten musste.

Bei einer Stromstärke von 150 Volt ließ der „Schüler“ den „Lehrer“ wissen, dass er am Experiment nicht mehr teilnehmen wolle. Der Versuchsleiter forderte den Probanden bei Rückfragen in einem neutralen, aber bestimmten Ton auf, das Experiment fortzusetzen. Mit höheren Stromstärken wurden die Schmerzenschreie Schritt für Schritt intensiver, bis der „Schüler“ es ab der Stufe 300 Volt ablehnte zu antworten. Ab 330 Volt wurden keine Geräusche mehr eingespielt, der Versuchsleiter ließ den Probanden jedoch das Experiment bis zur Stufe von 450 Volt fortführen. Dem Probanden musste dabei klar sein, dass der Schüler ab 330 Volt besinnungslos oder gar tot war. Beinahe jeder Proband hatte während des Experiments deutliche Stresssymptome – Schweiß, Unruhe, unkoordinierte Bewegungen, Zittern, Tränen und nervöses Lachen waren bei den meisten Probanden zu beobachten. Den offensichtlichen inneren Kampf zwischen Gehorsam und Gewissen gewann allerdings meist der Gehorsam.

Das Ergebnis des Milgram-Experiments war verstörend – 82,5% der Probanden machten trotz der eindeutigen Aufforderung des „Schülers“ bei 150 Volt weiter, 79% von ihnen sogar bis zum Maximallevel von 450 Volt. Im relativ aufgeklärten Amerika der 1960er Jahre hätten also 65% aller Probanden einen ihnen nicht bekannten Menschen auf Aufforderung durch einen Wissenschaftler zu Tode gefoltert. Milgram variierte das Experiment mehrfach, um herauszufinden, was es ist, das einen Menschen in einer Konfliktsituation zum Mörder machen kann. Die höchste Rate erzielte er mit einem Versuchsaufbau, bei dem der Proband gar keinen Kontakt zum „Schüler“ hat und nur bei der Stromstufe 300 Volt einen Schlag an der Wand des Nebenraumes ausmachen konnte. Von 40 Probanden sind in diesem Versuch fünf bei 300 Volt ausgestiegen – 26 gingen bis zum bitteren Ende.

Bei einer Variation, bei der der „Schüler“ im gleichen Raum saß und die Schmerzen spielte, gingen „nur“ 40% bis 450 Volt. Bei einer weiteren Variante, bei der der Proband an einem Punkt aufgefordert wurde, dem „Schüler“ die Elektrokontakte, die sich angeblich gelöst hätte, persönlich zu befestigen, wobei also während der Stresssituation körperlicher Kontakt zwischen Täter und Opfer hergestellt wurde, waren „nur“ noch 30% bereit, den „Schüler“ bis zur Maximalstufe zu bestrafen. Milgram führte auch Experimente durch, bei denen ein weiterer Schauspieler einen zweiten „Lehrer“ darstellte – stimmte dieser dem Versuchsleiter zu, gingen 90% der Probanden bis zum Maximum, während nur 10% dies taten, wenn der zweite „Lehrer“ dem Versuchsleiter Widerstand entgegen brachte. Kein einziger Proband ging bis zum Maximum, wenn ein zweiter „Wissenschaftler“ den Raum betrat und insistierte, dass das Experiment abgebrochen werden sollte. Auch bei Varianten des Experiments, die nicht in Yale sondern in einem heruntergekommenen Bürogebäude unter der Adresse eines privaten Instituts vorgenommen wurden, war die Zahl derjenigen, die bis zum Maximum gingen, signifikant kleiner als im angesehen Umfeld der Yale-Universität.

Die Macht der Obrigkeit

Milgram fand auf diese Art und Weise heraus, was es ist, das Menschen bis zur Selbstaufgabe gehorchen lässt. Die Autorität muss anerkannt sein – in diesem Falle war es die Wissenschaft, aber auch der Staatsapparat stellt eine solche anerkannte Autorität dar. Die Autorität muss eine klare Linie vertreten – sobald es innerhalb der Autorität erkennbare Zweifel an der eingeschlagenen Linie gibt, schlägt sich der Proband auf die Seite, die seinem Gewissen näher steht. Will man maximalen Gehorsam, muss man die Beziehung zwischen Täter und Opfer möglichst abstrahieren. Sobald Opfer und Täter sich gegenüberstehen oder gar körperlich in Berührung kamen, sinkt die Bereitschaft des Täters, Gehorsam über Gewissen zu stellen, merklich.

Die Ergebnisse Milgrams lassen sich in beängstigender Weise auf die Ausführung der Massenmorde der Deutschen im Dritten Reich übertragen. Aus den menschlichen Opfern wurden Nummern gemacht – Menschentransporte wurden wie Warentransporte behandelt und Massenerschießungen wurden nicht nur aus Rationalisierungsgründen durch die Vergasung der Opfer ergänzt. Die Zahl der Täter, die direkten Kontakt zu den Opfern hatten, konnte so reduziert und der Grad der persönlichen Täter-Opfer-Bindung minimiert werden. Die Selektion der Mörder wurde auch so durchgeführt, dass es auf der letzen Exekutionsebene niemanden gab, der den Autoritäten widersprechen würde. Milgram hat mit seinem Experiment den psychologischen Masterplan der Nationalsozialisten nachgezeichnet und gezeigt, dass sich nicht nur die obrigkeitshörigen Deutschen in einen solchen Masterplan einspannen ließen, sondern auch normale Amerikaner durchaus obrigkeits- und autoritätshörig genug sind, um sich zu Mördern im Auftrag der Obrigkeit machen zu lassen. Wäre ein Massenmord auf Befehl der Obrigkeit auch heute noch möglich? Wäre er auch in einem aufgeklärten Land möglich? Milgram und seine Experimente lassen nur den Schluss zu, dass beide Fragen bejaht werden müssen.

Aufgrund der psychologischen Extrembelastung bei den Probanden dürfen Experimente, wie Milgram sie durchführte, seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr gemacht werden. Die Gefahr einer Traumatisierung für die Probanden ist einfach zu hoch. Anders als die Wissenschaft mit ihren Ethikkommissionen haben die Medien seichtere Richtlinien, wenn es darum geht, Menschen für die Unterhaltung der Masse zu Opfern zu machen. So hat der britische Zauberkünstler und Illusionist Derren Brown das Milgram-Experiment jüngst für den britischen Chanel 4 nachgestellt und auch die BBC hat für eine Dokumentation das Experiment bis zur 450 Volt-Grenze wiederholen lassen – ausgestrahlt wird diese Dokumentation im nächsten Jahr.

Die Neuauflage

Der amerikanische Psychologe Jerry Burger konnte mit der Ethikkommission der Universität in Santa Clara eine Neuauflage des Milgram-Experiments in abgeschwächter Form aushandeln – die Ergebnisse dieser „Milgram-Light“ Studie wurden nun in einer Pressemeldung der American Psychological Association öffentlich gemacht. Burger durfte sein Experiment nur bis zur 150 Volt Stufe durchführen – dies ist im Versuchsaufbau der Punkt, an dem der „Schüler“ vernehmbare Schmerzensschreie von sich gibt und sagt, er wolle nicht weiter am Experiment teilnehmen. Da das Milgram-Experiment in der Psychologie weitreichend bekannt ist, wurden Probanden, die Psychologiekurse absolviert hatten, ausgefiltert – ebenso durften Menschen mit psychischen Erkrankungen und Dispositionen nicht an der Studie teilnehmen. Anders als beim „klassischen“ Milgram-Experiment mussten die Probanden an mehreren Stellen darauf hingewiesen werden, dass sie jederzeit den Versuch abbrechen können – in der klassischen Variante wurde dies nur einmal am Beginn des Experiments gesagt. Der geänderte Versuchsaufbau macht die Ergebnisse daher auch nur annährend vergleichbar – man sollte alleine aufgrund des mehrfachen Hinweises, jederzeit aufhören zu dürfen, ohne Nachteile befürchten zu müssen, mit einer wesentlich höheren Abbrecherquote rechnen – dies war aber kaum der Fall. Während bei Milgram 82,5% der Probanden nach der 150 Volt Stufe weitermachten, waren in Burgers Versuch 70% bereit, dem „Schüler“ entgegen dessen Willen schwere Schmerzen zuzufügen – der Unterschied ist statistisch nicht signifikant.

Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.
Schopenhauer

Burger führte auch eine zweite Versuchsreihe durch, bei der ein zweiter Schauspieler einen zweiten „Lehrer“ spielte, der beharrlich Bedenken gegen den Versuch äußerte. Auch in diesem Versuch waren 63,3% der Probanden bereit, gegen ihr eigenes Gewissen und gegen die Bedenken des zweiten „Lehrers“ über die 150 Volt Stufe zu gehen – das Ergebnis dieses zweiten Versuchsaufbaus gibt dem Forscher besonders zu denken. Burgers Wiederholung des Milgram-Experiments zeigt dessen Zeitlosigkeit. Auch heute würde die Mehrheit aller Amerikaner einem ihnen unbekannten Menschen auf Befehl schwere Schmerzen zufügen – Guantanamo lässt grüßen.

Die Ergebnisse der Experimente sind desillusionierend – auch in einer aufgeklärten Gesellschaft gehorchen die Menschen in bestimmten Situationen eher den Autoritäten als dem Gewissen. Die Ergebnisse der Experimente widersprechen damit idealistischen Wunschvorstellungen, eine freie individualistische Gesellschaft würde „bessere Menschen“ hervorbringen. Der Mensch scheint in Konfliktsituationen dazu zu neigen, sein eigenes Gewissen und den „Common Sense“ einer Obrigkeit unterzuordnen. Wäre Auschwitz auch heute noch möglich? Wahrscheinlich nicht, aber in einer vergleichbaren Situation würden unsere Zeitgenossen wahrscheinlich genau so handeln wie ihre Vorfahren.

P.s.: Eine sehr gelungene Verfilmung des Milgram-Experiments gelang Henri Verneuil in seinem Spielfilm „I wie Ikarus“ aus dem Jahre 1979. Die betreffende Szene gibt es als Dreiteiler in deutscher Sprache auf Youtube - leider lässt die Bildqualität zu wünschen übrig. Denjenigen, die der französischen Sprache mächtig sind, sei die Originalversion mit guter Bildqualität empfohlen.

Jens Berger



Abstract der Studie von Milgram
Abstract der Studie von Burger
Editorial von Arthur Miller
Editorial von Alan Elms




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