Donnerstag, 25. Dezember 2008

Statt einer Weihnachtsgeschichte:

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24.12.2008 / Schwerpunkt / Seite 3Inhalt

Wie ein Trauerzug

Statt einer Weihnachtsgeschichte: Ein Tag im Jobcenter Marzahn-Hellersdorf

Von Ulrich Guhl
Unlängst mußte ich zu meinem Bedauern in das für mich zuständige Jobcenter im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Ich hatte mir schon vor langer Zeit geschworen, diesen Ort nie wieder freiwillig zu betreten. Meine Erlebnisse dort bestätigten diese Vorbehalte. Beim Eintreffen in dem großen Gebäude in der Allee der Kosmonauten wurde ich von der üblichen langen Warteschlange begrüßt, die sich in mehreren Kurven im Empfangsbereich herumschlängelte. Müde und gereizte Gesichter, Mütter, die nur mit Mühe ihre Kinder im Zaum halten konnten, und Menschen, die sich ihre entmutigenden Erfahrungen mit seelenlosen Behörden erzählten, erwarteten mich. Ich reihte mich ein und steckte meine Nase in ein mitgebrachtes Buch. Zugleich beobachtete ich die Frauen, Männer und Kinder um mich herum. Alles wirkte deprimierend. Wie ein Trauerzug bewegten wir uns Zentimeter um Zentimeter vorwärts und beneideten jeden Glücklichen, der von den einweisenden Wachschutzleuten zu den Abfertigungsschaltern gerufen wurden. »Der nächste bitte!« Wie bei früheren Besuchen dort wurde mir wieder das Entwürdigende der Situa­tion bewußt. Alles scheint direkt darauf ausgerichtet zu sein, die Menschen zu demütigen, ja, sie zu brechen. Mit Sicherheit gäbe es andere Möglichkeiten, die Leute auf andere Weise in diesen Moloch Jobcenter zu führen, als diese Warteschlangen. Sicher, eine fröhliche Veranstaltung wäre es unter keinen Umständen. Doch muß diese Demütigung des oft stundenlangen Anstehens sein?

Nach mehr als einer Stunde Warten zählte ich schließlich zu den Glücklichen und kam an den Schalter. Da ich einen Erstantrag zu stellen hatte, mußte ich nun zur weiteren Bearbeitung meines Anliegens in einen Warteraum der zweiten Etage. Dort war ich nicht allein. Menschen saßen, standen und hockten im besagten Raum und im Flur. Ich richtete mich auf eine längere Zeit ein. Wieder sah ich gereizte, aber auch abgestumpfte, müde und blasse Gesichter. Die Kinder waren nun deutlich unruhiger geworden und die Mütter und Väter hatten alle Hände voll zu tun, um sie noch einigermaßen unter Kontrolle zu halten. Ewiges Warten. Die Zeit schleppte sich dahin. Ich setzte mich im Flur auf den Fußboden, um mich sozusagen in eine Ecke verkriechen zu können, wo ich ein wenig nur für mich sein konnte. Ein Mann stand plötzlich neben mir und brummelte mit sarkastischem Lächeln zu seiner Frau: »Ja, das haben wir nun davon! Was haben wir damals gebrüllt! Helmut Kohl, rette uns! Was haben wir damals nur gedacht! Waren wir alle blöd!!!« Da er dabei mich ansah, fühlte ich mich unter Verdacht gesetzt und sagte, das ich damals nicht so gebrüllt habe. Er meinte daraufhin, daß es heute ohnehin schwierig geworden sei, noch jemanden zu finden, der zu jener Zeit dabeigewesen sein will. Ich ließ es dabei bewenden. Finster guckte er in den vollen Warteraum und sah auf die überwiegend jungen Menschen und Kinder. Er wies mit der Hand hinein und sagte: »Die armen Kinder!« »Ja«; sagte ich, »ich habe meine Eltern noch auf der Arbeit besucht, heute begleiten die Kinder ihre Eltern in das Jobcenter.« Er nickte zustimmend und bedeutungsvoll. Ja, dachte ich, dieser Gedanke steht geradezu symbolhaft für die Wirklichkeit, in der wir nun zu leben haben.

Nach gut zwei Stunden war ich endlich dran, und meine Daten wurden von der Sachbearbeiterin aufgenommen. Doch der nächste Schock ließ nicht lange auf sich warten: Ich mußte noch zur Abteilung Arbeitsvermittlung in die Rhinstraße! Jetzt war auch ich deutlich gereizt. Völlig entnervt fuhr ich mit meinem Rad dorthin und saß noch einmal eine halbe Stunde in einem Wartebereich, der allerdings diesmal leer war. Als auch dort meine Daten von einer wirklich freundlichen und verständnisvollen Mitarbeiterin aufgenommen waren, sie spürte wohl auch meine totale Erschöpfung, war der Alptraum Jobcenter für mich ausgestanden. Ich trat aus dem Gebäude hinaus und fühlte mich wie befreit. Selten hatte ich frische Luft so nötig.

Beim Nachhauseradeln wurde auch ich in meinem Inneren sarkastisch. Ich dachte mir, welch eine Zeitverschwendung diese ganze Veranstaltung eigentlich war. In einem Büro, wo meine Angelegenheiten tatsächlich bearbeitet wurden, war ich in den vergangenen vier Stunden insgesamt nicht einmal zehn Minuten. Was hätte man da nicht alles Nützliches tun können! Wir, die Wartenden, hätten in Berlin-Mitte Ratten jagen können! Oh ja, vielleicht könnte der Bezirk jetzt rattenfrei sein! Oder wir hätten nach den Ernährungsrezepten für Arme des Thilo Sarrazin viele Gourmetspeisen kochen können!

Ich schreibe dies nicht, um das Jobcenter in Marzahn-Hellersdorf in den Schmutz zu ziehen. Ich bin von den Mitarbeitern dort immer korrekt behandelt worden. Sie können nichts für ein unmenschliches System – genährt durch eine unmenschliche Politik. Ich schreibe dies nur, um einmal Einblick in die Gefühle von jemandem zu gewähren, der dieses System tatsächlich erlebt. Denn wenn nur die Sarrazins hierzu zu Worte kommen, sind die nächsten Unmenschlichkeiten programmiert.

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