Schweigen als Skandal
Christian BommariusEin Skandal kann auch darin bestehen, dass er ausbleibt. Wenn eine Ägypterin, schwanger und Mutter eines kleinen Kindes, in einem deutschen Gericht mit 18 Messerstichen ermordet wird, dann ist das ein Verbrechen. Wenn der Täter - ein wegen Beleidigung der jungen Frau als "Islamistin", "Schlampe" und "Terroristin" angeklagter, 28 Jahre alter Deutscher - auf sein Opfer mit den Worten zustürzt, es habe kein Recht, in Deutschland zu sein, "wenn die NPD an die Macht kommt, ist Schluss damit", dann ist das Mord aus rassistischem, also aus niedrigem Beweggrund. Aber ist das ein Skandal? Anderentags erschienen die Nachrichten über den Mord im Dresdner Landgericht - er geschah am Mittwoch vergangener Woche - mal kürzer, mal länger auf den vermischten Seiten der deutschen Tagespresse, kein Kommentator klagte die Bluttat an, kein deutscher Politiker ließ sich zu einer Äußerung seiner Bestürzung, Wut, Trauer und Betroffenheit herbei.
Selten hat die deutsche Öffentlichkeit auf ein - in der Öffentlichkeit eines Gerichtssaals begangenes - Verbrechen so gelassen reagiert wie auf den Mord in Dresden. Und noch seltener war der Grund dieser Gelassenheit ebenso niederschmetternd wie mit Händen zu greifen. Er ergibt sich aus der Antwort auf die Frage: Wie hätte die Öffentlichkeit reagiert, wenn im Gerichtssaal ein Ägypter eine schwangere Deutsche, Mutter eines kleinen Kindes und zuvor vom Täter schwerstens beleidigt, ermordet hätte? Der Aufschrei der Empörung in Deutschland würde noch die Wasser des Nils in Wallung versetzen, ganz zu schweigen von den unvermeidlichen Beschlüssen der Innenministerkonferenz zu effektiveren Maßnahmen der Terror-Bekämpfung.
Der britische Journalismus hält die Faustregel bereit: "100 Wogs = 10 Frogs = 1 Briton". Bei den Wogs handelt es sich um Asiaten und andere Nicht-Europäer, bei den Frogs um die als Froschliebhaber berüchtigten und auch im Übrigen kulturell benachteiligten Franzosen. Den Wert des Lebens nach nationalen Zugehörigkeiten zu bemessen, entspricht der Tradition des Journalismus, dem Geschäft der Politik und dem Gefühl des Publikums. Ihn auch nach der religiösen Zugehörigkeit der Opfer zu bemessen, entspricht dem Zeitgeist.
Das Schweigen der deutschen Gesellschaft nach dem Mord von Dresden verrät einiges über die deutsche Gesellschaft, fast noch mehr, dass fast als Einziger der Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland, Stephan Kramer, die passenden Worte fand: "Die, die bisher die Sorge um Islamophobie in Deutschland für eine Phantomdebatte abgetan haben, sehen sich nach diesem furchtbaren Ereignis Lügen gestraft."
Aber nicht das Ereignis selbst, sondern erst die provozierend entspannte Reaktion auf das Ereignis macht dramatisch deutlich, dass drängender als der Islamismus - oder gar der Islam - die Islamophobie als Problem der deutschen Gesellschaft anzusprechen ist, das Ereignis, der Mord selbst zeigt etwas anderes. Die Debatte über die Islamophobie, die jetzt endlich in Gang zu kommen scheint, droht tatsächlich zu einer Gespensterdebatte zu werden, wenn nun nur das Opfer des Verbrechens, nicht aber der Täter öffentliche Aufmerksamkeit findet.
Lange Zeit war unter den Rechtsextremisten umstritten, ob sie die in der Bundesrepublik lebenden Russlanddeutschen terrorisieren oder als Wähler umwerben sollten. Inzwischen hat zumindest die NPD die 2,5 Millionen Spätaussiedler als Zielgruppe entdeckt. In Wahlkämpfen verteilt sie Flugblätter in russischer Sprache, im vergangenen Jahr gründete sie einen "Arbeitskreis der Russlanddeutschen."
Nur ein kleiner Teil der russisch-deutschen Spätaussiedler ist für die Botschaften der Rechtsextremisten empfänglich. Aber ansprechbar sind manche, denen es nicht gelingt, sich in der fremden Heimat Gehör zu verschaffen: vor allem junge Männer, die die deutsche Sprache so wenig beherrschen wie die sozialen Normen und auf ihre gesellschaftliche Isolation mit Gewalt reagieren. Die deutsche Öffentlichkeit hat sich für deren spezifische Gewaltursachen und Gewalterfahrungen - auch untereinander - jahrelang so wenig interessiert wie die Polizei, die bis heute nur in wenigen Bundesländern zwischen der Gewaltkriminalität deutscher und russland-deutscher Jugendlicher in den Kriminalitätsstatistiken differenziert.
Der 28 Jahre alte Russlanddeutsche, der das Leben der ägyptischen Mutter und deren ungeborenen Kindes auslöschte, war vor sechs Jahren aus Perm, nahe dem Ural, in die Bundesrepublik gekommen. Wie gut er Deutsch spricht, ist bisher nicht bekannt. Doch hat es gereicht, seinem Opfer die Hassparolen der NPD vor dem Verbrechen zuzurufen. Wie laut hätte er schreien müssen, um in der deutschen Öffentlichkeit ein Echo zu provozieren? Das Opfer wurde übersehen, der Täter wurde überhört. Beides werden die Rechtsextremisten mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen.
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Die Debatte über die Islamophobie droht zu einer Gespensterdebatte zu werden, wenn nun nur das Opfer, nicht aber der Täter öffentliche Aufmerksamkeit findet.
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