Muslim-Markt interviewt | ||
MM: Sehr geehrte Frau Epstein, erlauben Sie eine Einstiegsfrage zu Ihrem Namen. Ihre Eltern hießen beide Wachenheimer. Warum heißen sie Epstein? Epstein: Nachdem ich heiratete wurde mein Name Epstein, der Name meines Mannes Arnold Epstein, der 1977 starb. MM: Ihre Eltern sind beide Opfer des Holocaust in Auschwitz und Sie sind bereits 85 Jahre alt. Was bewegt Sie dazu, sich immer noch derart intensiv und kraftraubend ausgerechnet für die Palästinenser gegen die Politik Israels zu engagieren? Epstein: Ich habe selbst erlebt, was Diskriminierung und Verfolgung ist. Obwohl ich nicht besonders religiös bin (meine Eltern waren auch nicht besonders religiös) folge ich den Aufruf von Leviticus (3. Buch Mose) 19:16 "....thou shalt not stand idly by the blood of thy neighbors..." ("... du sollst nicht still stehen oder müßig sein wenn Dein Nachbar blutet ..."). Als sich das erste Mal an der Mauer in Qalquilia stand, erinnerte ich mich an das Motto von Holocaust Überlebenden "Never again" ("Nie wieder"). Das bedeutet "nicht wieder für Juden," aber mit der grausamen Realität setze ich hinzu: "und nie wieder bei Juden." Als Jüdin schäme ich mich, dass meine GlaubensgenossenInnen solche Gräueltaten gegenüber Palästinensern vornehmen. Ein anderes jüdisches Motto, das ich befolge, heißt: "Tiqqun Olam" ("Weltverbesserung"). MM: In einem offenen Brief an Außenminister Steinmeier haben Sie den schweren Vorwurf erhoben, dass Deutschland Mittäter sei bei der Unterdrückung der Palästinenser durch Israel. Wie meinen Sie das? Epstein: Wenn man nichts tut oder nur zuschaut wenn Gräueltaten geschehen, dann ist man einfach mitschuldig. Niemand ist zu alt, zu jung, zu klein oder zu einfach um nichts zu tun. Jede/r von uns kann nicht nur, sondern muss Verantwortung übernehmen, um das, was nicht richtig ist, richtig zu stellen. Wenn wir das alle tun, dann können wir alle hoffentlich einmal in Frieden und Harmonie miteinander leben. Insha'Allah. MM: Deutsche haben aber aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Sensibilität mit dem Thema "Juden". Wie kann ein Deutscher sich gegen die aktuelle Politik Israels engagieren, ohne sich dem Vorwurf des Antisemitismus auszusetzen? Epstein: Genau so wie ein Deutscher sich gegen die aktuelle Politik eines anderen Staates engagieren würde und diesen kritisieren würde. Das Schuldgefühl aufgrund des Holocaust soll nicht im Weg stehen in Bezug auf Israel, auch nicht die Angst, dass man als Antisemit beschimpft wird. Israel gesondert zu behandeln, d.h. zu schweigen und wegzuschauen ist eine Art Diskriminierung. Schweigen und Wegschauen macht einem mitschuldig. Wenn Israel so ein guter Freund von Deutschland ist und man sieht, dass deren Weg falsch ist, dann muss man Israel helfen, aus guter Freundschaft, von dem Irrweg weg zu kommen. MM: Sie selbst sind inzwischen mehrfach Opfer von Gewalttaten geworden und haben dabei auch ihr Gehör teilweise eingebüßt. Einen Tag vor der Abreise des Schiffes "Spirit of Humanity" mit dem Free Gaza Movement nach Gaza zu segeln wurden sie am helllichten Mittag in der Nähe ihrer Wohnung überfallen und konnte auf aufgrund der Verwundungen nicht mitfahren. Glauben Sie das war lediglich ein unglücklicher Zufall? Epstein: Der Überfall erfolgte am 27. Juni 2009, ein Tag vor meiner Abreise nach Qatar, wo ich gegenüber den Medien bei Interviews im Zusammenhang mit unserer Reise nach Gaza mit dem Schiff "Spirit of Humanity" teilnehmen sollte. Danach sollte ich nach Zypern fliegen und von dort mit dem Schiff nach Gaza. Ursprünglich sollte das Schiff Zypern bereits am 25. Juni verlassen. Ob der Überfall ein unglücklicher Zufall war oder ob man absichtlich auf mich gezielt hat ist eine Frage ohne Antwort. Ein unglücklicher Zufall macht allerdings keinen Sinn, denn man hat nicht versucht meine Handtasche oder meinen Koffer zu stehlen; ich zog einen Roll-Koffer hinter mir her. Ich kam gerade zurück von einer Universität außerhalb St. Louis, wo ich drei Vorträge gab, einen über meine Holocaust-Erfahrungen und die anderen über Israel/Palästina. Wurde ich gezielt angegriffen? Von wem? Warum? Eventueller Hintergrund: Am 19. Januar 2009, wurden zwei Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen, da ich nicht zu Hause war, von einem mir unbekannten Mann, der seinen Namen und seine Telefonnummer und dass er aus der Gegend von New York kommt, hinterließ. Seinen Aussagen nach waren seine Anrufe in Bezug auf mein "Live Interview", etwas über zwei Wochen zuvor, mit einer hiesigen TV-Station, wo ich über das damalige Massaker in Gaza sprach. Er beschimpfte mich und warnte mich, dass wenn wir (nicht ich, sondern wir) nach St. Louis kommen, "'werden wir uns um euch kümmern" und "ich werde in dein hässliches Gesicht spucken." Er forderte mich auf, ihn anzurufen, aber wahrscheinlich hätte ich nicht genug Courage das zu tun. Ich habe damals die Polizei darüber informiert. Am nächsten Tag nach dem Überfall auf mich, erhielt ich ein e-mail von einem Mann, dessen Namen mir unbekannt ist. Er schrieb: " Sie stehen ein für die Palästinenser. Gut. Stehen Sie auch ein für den israelischen Soldaten der schon seit 3 Jahren in der Gefangenschaft der Hamas ist? Wenn ja, dann würde meine Meinung über sie steigen." Ich gab eine Kopie dieses e-mail an die Polizei, denen ich natürlich über den Überfall auf mich bereits am Tag des Überfalls berichtete. Besteht da eine Verbindung mit dem Januar Telefonanruf und mit diesem e-mail? Wer weiß? MM: Andere sind nach Gaza gefahren und wurden festgenommen und abgeschoben, darunter auch die irische Friedensnobelpreisträgerin Mairead Maguire und die frühere US-Kongressabgeordnete Cynthia McKinney. Dennoch fand die Aktion nicht den notwendigen Widerhall in den deutschen Medien. Wie war es in den USA und warum gelingt es trotz hochkarätiger Besetzung der Friedensinitiative nicht, deutlicher in das Bewusstsein der Leser durchzudringen? Epstein: Genau so wie in Deutschland haben die amerikanische Medien nur wenig darüber berichtet. Die Angst als Anti-Semit beschimpft zu werden ist zum Teil daran schuld. Die amerikanische jüdische Lobby (AIPAC) ist sehr stark, und mit Geld kaufen sie die Stille der Medien und, was noch wichtiger ist, auch die Stimmen der Kongressabgeordneten. Z.B. verlor Cynthia McKinney ihren Posten als Kongressabgeordnete, weil sie sich öffentlich gegen Israel aussprach. AIPAC unterstützt finanziell außerordentlich die Personen, die auch für diese Position standen und hat deshalb gewonnen. Und so haben die anderen Kongressabgeordneten Angst, dass wenn sie Israel kritisieren, sie dann kein Geld bekommen und mehr verlieren als ihren Posten. Diese Angst existierte schon lange vor dem Fall Cynthia McKinney. Maine nächste Frage ist: "Hat Obama auch Angst Israel zu kritisieren?" MM: Trotz Hamas-Regierung haben Sie sich für einen Dialog mit den Palästinensern in Gaza ausgesprochen, noch lange vor dem Gaza-Krieg. Da Sie nicht mitfahren könnten, was würden Sie heute von der Ferne den Bürgern in Gaza gerne sagen? Epstein: Das Free Gaza Movement ist keine politische Organisation, wir sind eine Menschenrechtsgruppe. Wir beziehen keine Stellung dazu, wen die Palästinenser wählen, wie z.B. Hamas, die demokratisch gewählt wurde bei internationaler Aufsicht. Wir stehen in Solidarität mit den Menschen in Gaza, die schon seit Jahren schrecklich leiden unter der israelischen Besatzung und besonders seit dem Massaker im Dezember 2008-Januar 2009. Ja Israel sagt, sie seien aus Gaza raus, aber in Wirklichkeit kontrollieren sie die Luft, das Wasser, das Land und was und wer rein und raus kommt. Ich sage den Bürgern in Gaza, sie sollen stark sein und nie die Hoffnung aufgeben, einmal in Frieden und Freiheit leben zu können, wie alle Menschen überall es auch können sollen. MM: Können Sie sich vorstellen, dass eines Tages Juden, Christen und Muslime gemeinsam in einem Staat in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit zusammen leben? Epstein: Ich bin eine verwurzelte Optimistin und so glaube ich, es könnte wirklich einmal so sein. Wir müssen alle und zusammen daran arbeiten, jeden Tag, jede Stunde, um es Wirklichkeit werden zu lassen. Wäre das nicht schön? MM: In Ihrer Heimatstadt St. Louis (MO, USA) haben sie vor 8 Jahren eine Gruppe der "Frauen in Schwarz" (Women in Black) gegründet und halten Mahnwachen. Wie sind die Reaktionen der Passanten in den USA, die Ihnen begegnen? Epstein: Wir geben den Passanten ein Flugblatt, dass erklärt wer wir sind und warum wir da stehen, d.h. wir stehen da in Opposition zu Israels Besatzung von Palästina und deren Menschen. Die meisten Leute nehmen das Flugblatt, einige kommen ins Gespräch mit uns, meistens positiv, einige Autos hupen im Einverständnis mit uns. Wir haben Transparente, auf denen erklärt ist, warum wir da stehen und einen Banner worauf steht "Women in Black". Und die Fahnen von Israel und Palästina sind gekreuzt angebracht an den Ecken. Vor ein paar Jahren kamen einmal drei jüdische Leute und standen vor uns mit ihren pro-Israel Plakaten. Wir stehen auf dem Buergersteig, diese Leute standen auf der Strasse vor uns. Bevor unsere Mahnwache vorüber war, gingen sie schon weg. Ein anderes Mal, auch vor ein paar Jahren, hat ein Mann die Polizei angerufen und sich beschwert über uns. Die Polizei, die uns kennt und mit der wie eine gute Beziehung haben, hat dem Mann gesagt, wir hätten das Recht dazu dort zu stehen. Ganz selten sagt jemand, dass wir falsche Information hätten und dass jeden Tag Selbstmordattentäter nach Israel kommen würden und Israelis ihr Leben verlieren würden und dass jeden Tag die israelische Stadt Sderot von Hamas beschossen würde. MM: Obwohl die Gruppe "Women in Black" und auch viele andere Initiativen von Juden und Jüdinnen sich für einen gerechten Frieden und einen fairen Ausglich mit Palästinensern einsetzen, ist die Wahrnehmung in der Westlichen Welt doch hauptsächlich von der zionistischen Position geprägt und im Internet findet man unschöne Anschuldigungen gegen Sie geschrieben von Menschen, die sich selbst als Juden bezeichnen. Andererseits haben betroffene Muslime in der Region zuweilen ein viel zu pauschales Feindbild, das sich gegen Juden richtet. Wie können Juden und Muslime gemeinsam verdeutlichen, dass beide Religionen sich für Frieden einsetzen und diejenigen, die den unfriedlichen Weg vorantreiben, sich eben nicht auf die Religion berufen dürfen? Epstein: Ganz im Gegenteil haben wir hier eine sehr gute Beziehung mit den hiesigen Muslimen. Oft bedanken sie sich für das, was wir tun. Vor dem 11. September 2001, haben mehrere Muslime an den Women in Black Mahnwachen teilgenommen. Danach sind sie aus Angst weggeblieben. In meinem engen Freundeskreis hier befinden sich Muslime, die mich aufnehmen wie eine unter ihnen. Das Feindbild in den Medien ist das, was die Medien als Wahrheit oder als Realität beschreiben, aber in der Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall - mit Ausnahmen natürlich. Wenn wir friedliebenden Juden und Muslime Kontrolle über die Medien hätten, könnte das Feindbild verschwinden. Bis dann, werden wir zusammen daran arbeiten, dieses Bild zu ändern und unsere Freundschaft wird dadurch gestärkt. Das mag sich alles ein bisschen naiv anhören, aber so ist der realistische Weg. MM: Welche Projekte möchten Sie noch in Ihrem Leben realisieren und was sind Ihre Zukunftsplanungen, wenn Gott es erlaubt? Epstein: Ich werde weiter an den Projekten , wie z.B. Israel/Palästina arbeiten in der Hoffnung, dass überall auf der Welt einmal Frieden und Gerechtigkeit herrschen wird. Übrigens, ich werde noch weitere hundert Jahre leben und danach werde ich entscheiden, wie lange ich noch weiter leben will. Ich mach nur Spaß, lachen Sie mal. MM: Wir wünschen Ihnen ein segenreiches langes Leben Frau Epstein und danken für das Interview. | ||
Links zum Thema
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http://www.silviacattori.net/article382.html
„Was ist die Lektion, die wir aus dem Holocaust lernen müssen?“
In dem von der Schweizer Journalistin Silvia Cattori geführten Interview spricht Hedy Epstein mit ihrer sanften und milden Stimme über ihre letzte Reise nach Palästina, nachdem sie eins der Konzentrationslager, in die ihre Eltern deportiert wurden, besucht hatte. „Ich möchte dieses Interview den Kindern von Gaza widmen, deren Eltern sie weder beschützen noch in Sicherheit wegschicken können, wie es meine Eltern in Mai 1939 taten, als sie mich mit einem Kindertransport nach England schickten.“ (*)
Hedy Epstein
Silvia Cattori : In 2004, nach der demütigenden und entmenschlichenden Misshandlung, die Sie am Flughafen Tel Aviv ertragen mussten, bei der Sie sich ausziehen mussten und ihre Körperöffnungen durchsucht wurden, wie Sie es mir in unserer ersten Unterhaltung [1] erzählten, waren Sie sehr aufgebracht und erklärten: „Ich werde nie wieder nach Israel zurückgehen“. Aber seither sind Sie viermal zurückgekehrt. Letzten Sommer waren Sie wieder dort. Wie war das möglich?
Hedy Epstein : Ich habe noch nie eine solche Wut empfunden wie nachdem, was mir und meiner Reisebegleitung in Januar 2004 am Ben Gurion Flughafen passiert ist.
Während ich im Flugzeug saß, immer noch voller Wut, schrieb ich auf jede Seite der Bordzeitschriften „Ich bin eine Holocaustüberlebende und ich werde ‚nie wieder’ nach Israel zurückkehren.“ Manchmal habe ich meinen Kugelschreiber so hart gedrückt, dass ich die Seite zerriss. Es war nur eine kleine Art, meine Wut abzureagieren.
Nach meiner Heimkehr, immer noch sehr wütend und traumatisiert, entschied ich mich für eine Gesprächstherapie, die mir half, mit meiner Wut fertig zu werden, und die es für mich möglich machte, meine nächste Reise in die West Bank nur ein paar Monate später, in Sommer 2004, zu planen. Seither bin ich jedes Jahr dort gewesen, insgesamt fünf Mal seit 2003. Ich bin wieder hingefahren, weil es das Richtige für mich zu tun ist, Augenzeugin zu sein und den Palästinensern wissen zu lassen, dass es Menschen gibt, die sich genug dafür interessieren, um zurück zu kommen und ihnen in ihrem Kampf gegen die israelische Besetzung bei zu stehen. Palästinenser haben mich gebeten, bei meiner Heimkehr der amerikanischen Bevölkerung zu erzählen, was ich gesehen und erlebt habe, weil sie nicht wissen, was dort geschieht, da die Medien sie nicht informiert. Ich habe mich dazu verpflichtet and nehme jede Gelegenheit wahr, dieser Verpflichtung nach zu kommen.
Silvia Cattori : Wie haben Sie die brutale Behandlung der israelischen Offiziere interpretiert?
Hedy Epstein : Sie versuchten, mich einzuschüchtern, mich zum Schweigen zu bringen in der Hoffnung, ich würde nie wieder hinfahren. Obwohl sie einen momentanen Erfolg hatten, sind sie letztendlich gescheitert. Ich zitiere General MacArthur, einen amerikanischen Armeegeneral, der einmal sagte „Ich werde wieder kommen“. Und ich bin viermal seit dem Vorfall in Januar 2004 am Tel Aviv Flughafen auf meinem Rückweg aus dem von den Israelis besetzten Gebiet zurückgekehrt. Und ich werde immer wieder hinfahren. Sie können mich nicht aufhalten. Daher habe ich es vor, in ein paar Monate an Bord eines Schiffes nach Gaza zu gehen.
Silvia Cattori : War es nicht zu traumatisch für einen sensiblen Menschen wie Sie, zur West Bank zurückzukehren und zu sehen, wie israelische Soldaten Palästinenser demütigen, bedrohen und töten und ihr Eigentum vernichten?
Hedy Epstein : Als Amerikanerin bin ich eine privilegierte Person. Ich bin dessen sehr bewusst und fühle mich in meiner Haut unwohl, besonders wenn ich in Palästina bin. Ich bin der Tatsache bewusst, dass ich kommen und gehen kann, wann ich will, ein den Palästinensern verweigertes Privileg. Sie haben große Schwierigkeiten sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, eingeschränkt von Straßensperren, Kontrollpunkten, einer acht Meter hohen Gefängnismauer, von jungen israelischen Soldaten, die willkürlich entscheiden, wer passieren darf und wer nicht, wer zur Schule gehen darf, zum Krankenhaus, zur Arbeit, zu Freunden und Verwandten.
Ich habe lange Schlangen von Palästinensern an dem Kontrollpunkt bei Bethlehem gesehen. Ich sprach mit einem 41-jährigen Mann, der mir erzählte, er arbeite drei Tage der Woche. Um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, stehe er um 2.30 Uhr auf und komme um 3.15 Uhr zum Kontrollpunkt, um sich in eine sehr lange Schlange mit anderen einzureihen und zu warten, bis der Kontrollpunkt um 5.30 Uhr öffnet. Er müsse so früh kommen, weil so viele Leute in der Schlange seien. Manchmal ließen die israelischen Soldaten niemanden durch. Er möchte gerne voll arbeiten, aber es gebe keine Jobs in Bethlehem.
Bei jedem meiner fünf Besuche habe ich Zeit in Jerusalem verbracht. Es ist mir schmerzlich bewusst geworden, wie zunehmend die derzeitige Größe und Grenzen der Stadt sehr wenig mit ihren historischen Parametern gemeinsam haben. Ausschließlich israelische Siedlungen wie Har Homa und Gilo werden Jerusalemvierteln genannt. Ostjerusalem ist übersät mit israelischen Fahnen, die über Häusern flattern, aus denen Palästinenser „entfernt“ wurden. So wird die Gegend immer stärker judaisiert.
Während meines letzten Aufenthalts in August 2007, hatte ich nur Zeit für einen kurzen Besuch bei meiner lieben palästinensischen Freundin und ihrem Mann in Ramallah. Bei früheren Besuchen waren ich und meine amerikanischen Reisebegleiter mehrere Tage zu Gast bei ihnen, sonnten uns in ihrer Gastlichkeit, typischer palästinensischen Gastlichkeit von einer Art, die ich nirgendwo anders erlebt habe. Die Hausfrau, in der Vergangenheit immer fröhlich, schien niedergeschlagen. Obwohl sie sich nicht beklagte, sagte sie einfach „Das Leben ist viel schwieriger, seitdem mein Mann keine Arbeit hat.“ Später bei einer Unterhaltung mit ihrem Mann unter vier Augen sagte er, er habe seine Stelle verlassen, um sich weiterzubilden. Es gibt Wahrheiten in beiden Aussagen, aber die des Ehemannes widerspiegelt den Versuch, etwas von seiner Würde zu retten und zu bewahren.
Ich besuchte auch meine palästinensischen Freunde und ihre Kinder in Bethlehem und blieb dort übernacht. Der Fernseher, der immer läuft, fing unsere Aufmerksamkeit. Da lief eine Reportage über Juden aus aller Welt, die nach Israel einwandern. Viele israelischen Fähnchen wedelten und hießen die neuen israelischen Staatsbürger bei ihrem Ankunft am Ben Gurion Flughafen in Tel Aviv willkommen. Auf einem großen Transparent im Hintergrund stand auf Englisch und Hebräisch „Willkommen zu Hause.“
Wir alle schauten den Fernseher schweigend an, während die Reportage weiterlief. Dann brachte einer von uns, ich weiß nicht wer, das große Schweigen und stellte die Frage „Was ist mit der Wiederkehr der Palästinenser?“
Bei der allwöchentlichen gewaltfreien Demonstration in Bi’lin, wo junge israelische Soldaten uns mit Tränengas bewarfen, überhörte ich als wir wegrannten eine Unterhaltung zwischen zwei palästinensischen Buben. Der eine sagte dem anderen „Ich möchte nicht sterben.“ „Ich auch nicht“, sagte der andere. Ihre Angst trage ich immer noch in mir. Was wird aus ihnen? Was für eine Zukunft haben sie?
Und dennoch, trotz der beinah hoffnungslosen Situation, die sich nie ändern könnte, ist das palästinensische Volk erstaunlich stark. Obwohl die israelische Unterdrückung fortschreitet und mit neuen militärischen Unterdrückungsmethoden schlimmer wird, geben die Palästinenser nicht auf. Sie werden weiterhin dort leben.
Sie sind ein erstaunliches, unverwüstliches Volk. Sie werden nie aufgeben. Die Israelis mögen viele von ihnen töten, ihre Häuser zerstören, ihre Leben zerstören, aber sie werden ihre Hoffnung auf ein andere, bessere Art des Zusammenlebens nie zerstören.
Egal, was die Israelis machen, sie können die Hoffnung und die Würde des palästinensischen Volkes nicht wegnehmen. Die Israelis haben zwar die Macht, das palästinensische Volk besitzt Würde, und allen Widrigkeiten zum Trotz hat es noch Hoffnung. Die Israelis haben die Flugzeuge, aus denen sie Bomben auf Gaza werfen, sie haben Bulldozer, die hier in den USA, nicht weit von meinem Zuhause, produziert werden. All diese Dinge können sie tun, aber trotz dieser Übermacht werden die Israelis die Hoffnung und Würde der Palästinenser nie zerstören können.
Silvia Cattori : Ist es nicht sehr ungewöhnlich und bewegend für die Palästinenser in Hebron oder Nablus, eine Holocaustüberlebende zu sehen, die unter solchen prekären Umständen zu ihnen reist, um ihnen ihre Liebe und Solidarität aus zu drücken?
Hedy Eptstein : Ich denke es ist wichtig, dass die Palästinenser, die Palästina nicht verlassen dürfen, die unter solchen entsetzlichen Bedingungen unter der israelischen Militärbesetzung leben, wissen sollen, dass es Menschen in anderen Teilen der Welt gibt, die die israelische Besetzung verurteilen, die genug Interesse haben um hin zu fahren und ihr Leiden und Schwierigkeiten mit ihnen zu teilen, wenn auch nur für kurze Zeit.
Ich bin immer wieder beeindruckt, wenn ich sehe, dass die Palästinenser so viel mehr über die Weltgeschehnisse wissen, dass sie besser informiert sind, als die amerikanische Bevölkerung.
Die meisten Palästinenser, die ich kennen gelernt habe, haben mich gebeten, der amerikanischen Bevölkerung das, was ich gesehen und erlebt habe, zu erzählen, weil die amerikanische Bevölkerung nichts davon weiß, da die Medien sie nicht informiert. Ich habe mich dazu verpflichtet. Vorträge habe ich auf Gymnasien und Universitäten, in Kirchen und vor Bürgergruppen, sowohl in den Vereinigten Staaten als auch in Deutschland (auf Deutsch) gehalten. Ich lege es den Menschen ans Herz, nach Palästina zu reisen, um das Leben dort zu sehen und zu erleben. Es ist eine lebensverändernde Erfahrung. Sie werden als anderer Mensch zurückkommen, bewusster, sensibler, und hoffentlich herausgefordert, etwas zu verändern.
Obwohl ich keine religiöse Jüdin bin (ich halte mich für eine weltliche Humanistin), weiß ich ein Bisschen über die jüdische Tradition, die lehrt: „Wir dürfen weder die Hoffnung noch unsere angefangene Arbeit aufgeben, auch wenn wir die Aufgabe persönlich nicht zu Ende führen können.“
Die Situation, besonders in Gaza, ist so schrecklich. Ich fühle mich dazu verpflichtet, weiterhin eine moralische Stimme zu sein, weiterhin den Mut zu haben für eine öffentliche Stellungnahme gegen Israels Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die von den Medien verbreiteten Fehlinterpretationen. Israel wäre nicht in der Lage, seine Verbrechen gegen die Menschheit auszuführen, ohne die Erlaubnis der USA, der Welt, ohne die Massenmedien, die mit wenigen Ausnahmen die Palästinenser entmenschlichen und Angst, Ignoranz und Abscheu vor ihnen und ihrer Kultur einimpfen.
Nachdem ich Palästinenser kennen gelernt und ihre Gastlichkeit, Wärme, Würde und Humor erlebt habe, ist es meine obliegende Pflicht, ihre Stimmen, ihre Erlebnisse zu allen meiner Zuhörern zu bringen, Zeugnis abzulegen über die Mauer, die Landbeschlagnahmungen, die abgerissenen Häuser, die Verstöße gegen die Wasserrechte, die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit. Die Zukunft des Friedens kann nicht durch Passivität erwartet werden, sondern durch Engagement und Kämpfe für die Gerechtigkeit. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit.
Nadav Tamir, israelischer Generalkonsul in Boston, schrieb November 2007 für die Boston Globe Zeitung: „Dies ist keine Frage mehr, ob man für die Israelis oder für die Palästinenser ist, sondern eine Konfrontation zwischen denen, die Frieden und denen, die Blutvergießen vorziehen. Es ist an der Zeit, die Seiten zu wählen.“
Silvia Cattori : Sie sagten, sie planen in einigen Monaten an Bord eines Schiffes nach Gaza zu sein [2]?
Hedy Epstein : Oh ja, definitiv. Nichts kann mich aufhalten. Ich bin fest entschlossen, an Bord zu gehen, und ich werde Schwimmunterricht nehmen, für alle Fälle. Das Schiff „Free Gaza“ (Gaza befreien) konnte letzten Sommer aus verschiedenen Gründen nicht fahren. Ich denke, es ist für alle auf das Schiff eingeladene Leute wichtig, diese Gelegenheit zu ergreifen, um der Welt vor Augen zu führen, was Israel tatsächlich in Gaza tut, und um ihre Absicht, die illegale Belagerung zu brechen, auszudrücken.
Die Medien werden so beeinflusst – wahrscheinlich auch von Israel – dass wer auch immer an der Macht in den USA oder Europa ist, sie nie das tägliche Geschehen an Ort und Stelle übermitteln, wie viel Leid von der extremen Unterdrückung verursacht wird, was den Menschen geschieht, nicht nur in Gaza sondern auch im kleineren Ausmaß in der West Bank. Die Welt muss es erfahren, und wenn wir das Medium dafür sein können, die Welt endlich über die Geschehnisse zu informieren, dann ist es wichtig für uns, diese Rolle zu spielen.
Silvia Cattori : Während die meisten Nationen die Hamasregierung im Gazastreifen isolieren und dabei sie von den notwendigsten humanitären Hilfen abschneiden, stellt nicht die Hamas-übernahme in Gaza ein Hindernis für Sie dar, dorthin zu fahren?
Hedy Epstein : Nein. Hamas wurde demokratisch gewählt. Es gab neutrale Wahlbeobachter, die an den Wahlen nichts zu beanstanden hatten. Sie sind demokratisch gewählt worden. Wie Sie wissen, wollten Israel und die USA diese Wahlen, aber sie hofften auf ein anderes Ergebnis. Die Tatsache, dass Hamas die Wahl gewonnen hat, mochten sie gar nicht. Aus diesem Grund attackieren sie Hamas und wollen sie nicht anerkennen. Und, sie führen eine Art Kollektivstrafe gegen die 1,5 Millionen Menschen in Gaza aus. Es ist eine gigantische humanitäre Krise. Die israelische Armee kontrolliert alle Ausgänge von Gaza nach Israel, Jordanien und Ägypten. Tatsächlich beherrschen sie Luft-, See- und Landwege.
Fast nichts darf eingeführt werden, und es ist nicht erlaubt, etwas aus zu führen. Gaza ist im Grunde ein landwirtschaftliches Gebiet. Die Bauern in Gaza, die z.B. Blumen, Erdbeeren und Tomaten mit viel Zeitaufwand, Energie und Kosten erzeugen, können ihre Produkte nicht verkaufen! Und so verwelken die Blumen und verrotten die Erdbeeren und Tomaten.
Die israelische Regierung gibt vor, Gaza nicht länger zu besetzen, aber das ist nicht wahr.
Silvia Cattori : Für die Menschen, die nicht wissen oder nicht wissen wollen, was die israelische Regierung wirklich tut, ist Ihre Stimme von äußerster Wichtigkeit. In der Tat, eine Person wie Sie, eine Augenzeugin der Nazi-Unterdrückung und der derzeitigen zionistischen Unterdrückung, die Tatsachen mit einem sehr ehrlichen Geist betrachten kann, ist sehr rar!
Hedy Epstein : Ich mache keine Vergleiche zwischen Nazi- und zionistischer Unterdrückung, obwohl mir dies vorgeworfen wurde. Stattdessen spreche ich über die aus dem Holocaust gelernten Lektionen. Ich glaube, dass meine Erfahrungen als Holocaustüberlebende der Hauptmotor für meine Bemühungen zur Förderung der Menschenrechte und sozialer Gerechtigkeit sind. Für mich, „Erinnern ist nicht genug,“ was auch der Titel meiner Autobiographie ist, die 1999 in deutscher Sprache in Deutschland erschienen ist [3]. Erinnern muss auch eine gegenwärtige und zukünftige Perspektive haben.
Was ist die Lektion, die wir aus dem Holocaust lernen müssen? Ich weiß wie es ist, unterdrückt zu werden. Niemand kann alles tun, aber ich sehe es als meine obliegende Pflicht, mein Möglichstes zu tun, das Richtige zu tun, in diesem Fall den Palästinensern in ihrem Kampf gegen die israelische Unterdrückung, unter der sie existieren und Tag und Nacht leiden, bei zu stehen.
Wozu habe ich überlebt? Ich könnte nur hier sitzen und sagen: Ja, die Situation ist schlimm, jemand sollte etwas dagegen tun. Ich glaube fest daran, dass jeder einzelne von uns, auch ich, muss dieser jemand sein, der versucht, die Situation zu verbessern.
Und das will nicht heißen, dass das Leiden der Palästinenser mehr oder minder schlimm ist, als das Leiden anderer Menschen an anderen Orten. Aber ich habe nur soviel Kraft und nur soviel Zeit jeden Tag. Statt meine Energie hie und da zu verstreuen, habe ich mich entschieden, sie auf die Israeli-Palästinenser-Frage zu konzentrieren.
Silvia Cattori : Auf Ihrem Weg nach Palästina reisten Sie zuerst nach Frankreich, um eins der Konzentrationslager zu besuchen, wohin Ihre Eltern deportiert wurden. War es Ihr erster Besuch?
Hedy Epstein : Lassen Sie mich erklären. Am 22. Oktober 1940 wurden alle Juden in Südwestdeutschland, wo ich herstamme, ins Konzentrationslager Camp de Gurs deportiert. Es lag in den Ausläufern der Pyrenäen, in damaligen Vichy Frankreich, das mit den Deutschen kollaborierte. Männer und Frauen wurden durch Stacheldraht getrennt. Ende März 1941 wurde mein Vater ins Camp les Milles bei Marseilles gebracht. In Juli 1942 kam meine Mutter ins Camp de Rivesaltes bei Perpignan.
In September 1980 besuchte ich Camp de Gurs, das Konzentrationslager in Dachau (wo mein Vater 1938 für vier Wochen nach der sogenannten Kristallnacht gehalten wurde) und Auschwitz. 1990 besuchte ich Camp les Milles, wo mein Vater bis zu seiner Deportation über Drancy (ein Transitlager bei Paris) nach Auschwitz interniert wurde.
Bis August 2007 war es mir nicht möglich, Camp de Rivesaltes, wo meine Mutter etwa zwei Monate in 1942 bis ihrer Deportation über Drancy nach Auschwitz verbrachte, zu besuchen. Nun besuchte ich letzten Sommer zusammen mit Freunden zum ersten Mal Camp de Rivesaltes.
In einem Brief vom 9. August 1942 schrieb mir mein Vater: „Morgen werde ich in unbekannte Richtung deportiert. Es könnte eine lange Zeit vergehen, ehe Du von mir wieder hörst....“ In einem Brief vom 1. September 1942 schrieb mir meine Mutter genau das Gleiche. Und dann erhielt ich eine Postkarte von meiner Mutter, datiert 4. September 1942, auf der sie schrieb: „auf der Fahrt nach dem Osten sendet Dir von Montauban noch viele innige Abschiedsgrüße....“ Diese waren die letzten Nachrichten von meinen Eltern.
In 1956, als ich herausfand, dass meine Eltern ins Konzentrationslager Auschwitz in Polen geschickt wurden, konnte ich bloß annehmen, dass sie nach fast zwei Jahren in Konzentrationslagern in Frankreich in sehr schlechtem körperlichen Zustand waren und bei ihrer Ankunft dort wahrscheinlich direkt in die Gaskammer geschickt wurden.
Silvia Cattori : Was haben sie gefühlt?
Hedy Epstein : Ich war verblüfft über die immense Größe des Lagers, das 30.000 Menschen beherbergen konnte, und über seinen beklagenswerten Zustand. Einige Baracken existieren nicht mehr, andere zerfallen, Dächer fehlen, Wände stürzen ein, wilde Vegetation wuchert überall. Zerfall überall. Nahestehende Windanlagen ragen wie Wachen über den Niedergang von dem, das einst für unglückselige Menschen, für meine Mutter, ein Zuhause war.
Aus der Korrespondenz mit meiner Mutter während sie da war wusste ich, welche zwei Baracken sie bewohnte. Eine Baracke habe ich nicht gefunden, wahrscheinlich existiert sie nicht mehr. Die andere, Baracke Nr. 21, habe ich gefunden.
Der Eingang zu den Baracken ist erhöht, was das Hineintreten sehr schwierig macht. Aber, als würde sie mich einladen, in Baracke 21 einzutreten, lag eine Holzplanke, die hoch zum Eingang führte. Mit der Hilfe meiner Freunde konnte ich mein Gleichgewicht halten, als ich auf Zehenspitzen – wie eine Ballett-Tänzerin – in die Baracke hineinging. Ich berührte die Wände, vielleicht an den gleichen Stellen wie meine Mutter. Ich hob ein Stückchen Trümmer auf, um mit nach Hause zu nehmen, und versuchte mir vorzustellen, wie es hier für meine Mutter gewesen sein mag. Später verließ ich die Baracke am anderen Ende indem ich hinaussprang und in einer überwucherten Fläche landete. Ein dorniges Gewächs hielt mich fest. Einer meiner Freunde bemerkte ergriffen: „Das Gebäude will nicht, dass Du gehst.“
Silvia Cattori : War der Besuch in Camp de Rivesaltes für Sie hilfreich, indem er Sie näher zur Seele Ihrer geliebten Mutter brachte?
Hedy Epstein : Während ich dort war, fühlte ich mich meiner Mutter sehr nah. Ich stellte mir vor, wie sie sich innerhalb des Lagers bewegte, wie es für sie gewesen war. Sie war von Juli bis September 1942 dort, in einer sehr heißen Jahreszeit. Ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter unter der Hitze litt, als wir noch zusammen in Kippenheim lebten. Es war bei meinem Besuch im Lager sehr heiß. Wie so oft in meinem Leben wurde ich an das „unverdient privilegiertes“ Leben erinnert, das ich führe. Dank der großen selbstlosen Liebe meiner Eltern entkam ich dem, was sie ertragen mussten. In dem sie mich in Mai 1939 mit einem Kindertransport nach England schickten, schenkten mir meine Eltern buchstäblich das Leben ein zweites Mal.
Silvia Cattori : Es war ein sehr bewegender Besuch für Sie, nicht wahr? Eine Rückkehr zu einer sehr traurigen Zeit in Ihrem Leben, von Ihren Eltern getrennt!
Hedy Epstein : Ehe ich Deutschland mit einem Kindertransport nach England verließ, gaben mir meine Eltern viele Ermahnungen mit auf den Weg - ich sollte gut sein, ich sollte ehrlich sein – und jede endete mit „Wir werden einander bald wiedersehen.“ Ich glaubte, dass wir einander bald wiedersehen würden. Ob meine Eltern es glaubten, werde ich nie erfahren. Meine Eltern und ich korrespondierten direkt miteinander bis England am 3. September 1939 Deutschland den Krieg erklärte. Dann war der direkte Briefwechsel nicht mehr möglich. Stattdessen haben wir Nachrichten von 25 Worten durch das Rote Kreuz gewechselt.
Nachdem meine Eltern in die Lager in Vichy-Frankreich geschickt wurden, konnten wir wieder direkt miteinander korrespondieren. Aber, meinen Eltern wurde erlaubt, nur eine Seite pro Person pro Woche zu schreiben. Ich konnte so oft und soviel schreiben, wie ich wollte. Meine Eltern schrieben nie über die entsetzlichen Bedingungen, unter denen sie zu „existieren“ gezwungen waren. Davon habe ich erst nach Kriegsende erfahren.
Wenn ich mich an die Zeit in England zurückerinnere, sehe ich ein sehr trauriges kleines Mädchen. Ich erlaubte es mir nicht, in wirklichen Kontakt mit meinen Gefühlen und Ängsten zu treten. Wie ich Ihnen schon erzählt habe, schrieben beide Eltern in ihren jeweils letzten Briefen an mich vor ihrer endgültigen Deportation (nach Auschwitz): „Es wird wahrscheinlich eine lange Zeit vergehen, ehe Du wieder von mir hörst.“
Wie lange ist eine lange Zeit? Eine Woche, ein Monat, ein Jahr, zehn Jahre?! Da ich es mir so sehr wünschte, mit meinen Eltern wiedervereint zu sein, sagte ich mir immer wieder „Eine lange Zeit ist noch nicht vorbei, ich muss länger warten.“ Ich habe mich geweigert, die Wahrheit zu erkennen. Ich war nicht dazu fähig, das Unvermeidliche, das Ableben meiner Eltern, zu akzeptieren. Das war in Wirklichkeit ein psychologisches Spiel, das ich mit mir selbst spielte. Es war meine Art zu überleben, ein Selbsterhaltungsmechanismus.
Erst September 1980, als ich Auschwitz besuchte und an der Stelle stand, die sie einst „die Rampe“ nannten, wo in den 1940er Jahren die Viehwaggons ankamen, die Menschen hinaus-getrieben wurden und Dr. Mengele und seine Helfer selektierten, wer leben und wer (in den Gaskammern) sterben sollte, war ich in der Lage, die Tatsache zu akzeptieren, dass meine Eltern und andere Familienmitglieder nicht überlebt haben. Das ist eine sehr lange Zeit der Wahrheitsverweigerung. Vielleicht ersetzte diese Verweigerung den üblichen Trauerprozess.
Silvia Cattori : Ich danke Ihnen für dieses bewegende Interview.
Silvia Cattori
(*) www.kindertransport.org/history.html
Übersetzung aus dem Englischen von Edith A. DuBose
Englische Fassung:
http://www.palestinechronicle.com/view_article_details.php?id=13431
[1] Über Hedys Misshandlung durch israelische Sicherheitsbeamte:
http://www.jkcook.net/Articles2/0165.htm
http://www.silviacattori.net/article130.html
[2] www.counterpunch.org/cattori06072007.html
www.voltairenet.org/article150755.html
[3] www.unrast-verlag.de/unrast,2,18,5.html
Alle Fassungen dieses Artikels:
- « Que Lição Aprender com o Holocausto? »
- "What is the lesson to be learned from the Holocaust?"
- "¿Qué lección hay que aprender del Holocausto?"
- « Quelle leçon doit-on tirer de l’Holocauste ? »
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