Sonntag, 12. April 2009

Nach Guantànamao

http://www.tlaxcala.es/pp.asp?reference=7391&lg=de


„Mit dem Regierungswechsel veränderte sich in Guantánamo Bay überhaupt nichts“: Interview mit Binyam Mohamed, der am 23. Februar aus Guantánamo entlassen wurde


AUTOR: Moazzam BEGG

Übersetzt von Schattenblick


Im Sog der Angriffe vom 11. September und dem anschließenden US-geführten 'Antiterrorkrieg' wurden von verschiedenen Ländern hunderte muslimischer Männer an den US-Geheimdienst ausgeliefert. Einer dieser Männer war Binyam Mohamed, ein in England lebender gebürtiger Äthiopier, der nach Afghanistan und Pakistan gegangen war, um seinen islamischen Glauben wiederzuentdecken und um einen Weg zu finden, seinen Drogenmißbrauch in den Griff zu bekommen. Binyam schaffte beides, aber auf eine Weise, die er sich niemals hätte vorstellen können. Für ein Handgeld wurde er von den pakistanischen Behörden verkauft und blieb danach für mehr als sieben Jahre in geheimen US-Einrichtungen und Militärgefängnissen. Am 23. Februar 2009 wurde er als der erste - und bislang einzige - Gefangene unter der Obama-Regierung aus Guantánamo freigelassen. Endlich zurück im Vereinigten Königreich, hat Binyam in zwei sehr biografischen Interviews über sein qualvolles Martyrium gesprochen. Im nachfolgenden exklusiven Gespräch mit dem Sprecher von Cageprisoners, Moazzam Begg, erörtert Binyam die Fälle der Menschen, die immer noch in amerikanischen Gefangenenlagern festgehalten werden - dabei auch den von Aafia Siddiqui - und die Rolle, die der Glaube während seiner Einkerkerung gespielt hat.

Audiofassung

Cageprisoners (Moazzam Begg): Bismillah ir-Rahman ir-Raheem (Im Namen Allahs, des Erbarmers, des Barmherzigen). Ich sitze hier mit dem Bruder Binyam Mohamed. Binyam, könntest du dich einfach kurz vorstellen, uns sagen, wer du bist und wo du die letzten Jahre warst?

Binyam Mohamed: Mein Name ist Binyam Mohamed. Ich bin Äthiopier, wurde in Äthiopien geboren. Ich kam nach Großbritannien, als ich 15 Jahre alt war ...

CP: ... du bist vielen Leuten bekannt, weil man dich in den letzten Jahren in Guantánamo Bay und in den Geheimgefängnissen der USA gefangengehalten hat. Zunächst einmal möchte ich dir sagen, Bruder, möge Allah für deine Rückkehr in dieses Land gepriesen sein. Ich möchte damit beginnen, daß ich dich frage: du bist all dieser Zeit in einem der berüchtigtsten, wenn nicht sogar wahrscheinlich dem berüchtigtsten Gefängnis überhaupt gefangengehalten worden. Viele halten die Menschen dort trotz all der Greuel, die sie durchgestanden haben, für Opfer. Würdest du dich als Opfer oder als Überlebenden bezeichnen?

BM: Zunächst einmal möchte ich Allah für die Freilassung preisen, die nach fast sieben Jahren Einkerkerung erfolgte. Ich würde sagen, mehr als Überlebenden, denn wir mußten viel aushalten, um nicht den Verstand zu verlieren und wir haben uns viele Wege ausgedacht, um die Situationen, in denen wir uns befanden, zu überleben.

CP: du bist in Pakistan verhaftet und dann nach Marokko verlegt worden, wo du mehrere Monate verbracht hast - oder waren es Jahre?

BM: Ich wurde in Pakistan fast dreieinhalb Monate festgehalten und dann nach Marokko transportiert, wo ich genau 18 Monate verbrachte.

CP: Und dann hat man dich nach Kabul, Afghanistan, in das "dunkle Gefängnis" verlegt?

BM: ... Dann wurde ich nach Kabul verlegt, wo ich fast fünf Monate verbrachte.

CP: Und dann wurdest du in die Haftanstalt von Bagram gebracht?

BM: Ja. Wir wurden ungefähr im Juni 2004 nach Bagram verlegt, wo wir drei bis vier Monate verbrachten.

CP: Mir ist klar, daß du bereits anderen Leuten Interviews gegeben hast - ich will nicht versuchen, zu sehr auf die schreckliche Folter abzustellen, die dir angetan wurde -, worauf ich aber den Blick richten möchte sind die Menschen, denen du begegnet bist und die sich immer noch im Gewahrsam der USA befinden. Als du in der Haftanstalt von Bagram warst, nachdem man dich im "dunklen Gefängnis" gefangengehalten hatte, bist du in Bagram auf eine Gefangene getroffen - kannst du etwas davon erzählen, wer du meinst, wer sie war und was du von ihr gesehen hast?

BM: In Bagram traf ich tatsächlich auf eine Gefangene, die ein Hemd mit der Nummer "650" trug. Ich habe sie mehrere Male gesehen und von den Wachleuten und den anderen Gefangenen dort viele Geschichten über sie gehört.

CP: Und diese Geschichten, was berichteten sie über sie, über ihre Herkunft und ihren Hintergrund?

BM: Am Anfang hat man uns erzählt... die Wachleute haben uns davon abgeschreckt, mit ihr zu kommunizieren, denn sie befürchteten, daß wir mit ihr reden und herausfinden würden, wer sie ist. Also haben sie uns erzählt, daß sie eine Spionin aus Pakistan sei, die für die Regierung arbeite. Und die Amerikaner hätten sie jetzt offensichtlich nach Bagram gebracht.

CP: du glaubst also, daß sie das Gerücht in Umlauf brachten, sie wäre eine Spionin, um Euch von ihr fernzuhalten und damit Ihr ihr gegenüber mißtrauisch bleiben solltet?

BM: Im Grunde hat niemand in der Anstalt mit ihr geredet, denn sie wurde in Isolationshaft gehalten, wo... sie wurde nur in die Hauptanlage gebracht, um die Toilette zu benutzen. Alles, was über sie berichtet wurde war, daß sie aus Pakistan stammte und daß sie in Amerika studiert oder gelebt hatte. Die Wachleute haben viel über sie geredet. Ich habe jetzt ihr Bild gesehen, als ich vor einigen Wochen hierherkam, und ich würde sagen, daß es sich um dieselbe Person handelt, die ich in Bagram gesehen habe.

CP: Und es ist genau dasselbe Bild von Aafia Siddiqui, daß ich dir gezeigt habe?

BM: Das ist genau das Bild, das ich gesehen habe.

CP: Es hat alle möglichen Gerüchte darüber gegeben, was ihr passiert ist - und möge Allah sie bald befreien - doch ein Teil der Gerüchte läuft darauf hinaus, daß sie fürchterlich mißhandelt wurde. Hast du irgendwelche Kenntnisse darüber, wie sie mißhandelt worden sein könnte?

BM: Mal abgesehen davon, daß sie in Isolationshaft war und von dem, was ich sehen konnte, wenn sie auf und abging, würde ich sagen, daß sie schwer gestört war. Ich glaube nicht, daß sie ganz bei Sinnen war - ich glaube wirklich nicht, daß sie geistig gesund war, aber zu dem Zeitpunkt hat es mich nicht weiter berührt, denn soweit ich wußte, war sie eine Heuchlerin, die mit anderen Regierungen zusammenarbeitete. Doch hätten wir gewußt, daß sie eine Schwester war, ich glaube nicht, daß wir still geblieben wären. Ich glaube, es hätte viel Widerstand, vielleicht sogar einen Aufstand in Bagram gegeben.

CP: Einige der Brüder, die später aus Bagram entkommen sind, haben von ihr gesprochen und erklärt, sie hätten hinterher erfahren, wer sie war und wären deshalb in den Hungerstreik getreten. Das könnte nach deiner Zeit dort gewesen sein, doch hat es die anderen Gefangenen, die da waren, aufgebracht, sogar eine Frau als Gefangene dort zu sehen?

BM: Es hat uns einfach aufgebracht, die Schwachen und Verletzen in Bagram vor Augen zu haben, und hätten wir gewußt, daß es dort auch eine Schwester gab, glaube ich nicht, daß irgendjemand still geblieben wäre. Doch um in Bagram ihre Ruhe zu haben, haben die Amerikaner das Gerücht in die Welt gesetzt, daß sie keine Schwester war...

CP: Daß sie eine Spionin war.

BM: Daß sie eine Spionin war und wir uns von ihr fernzuhalten hatten.

CP: Hast du damals irgendwelche Gerüchte gehört, daß sie Kinder hatte oder etwas in der Art?

BM: Ich hatte davon gehört, ich weiß nicht, ob von den Wachleuten oder von den Brüdern, daß sie Kinder hatte, daß die Kinder aber nicht in Bagram, sondern woanders waren.

CP: Und gab es irgendwelche Gerüchte oder Diskussionen darüber, was mit den Kindern passiert sein könnte?

BM: Wir hatten keine Ahnung, was mit den Kindern geschehen war.

CP: Schließlich bist du dann nach Guantánamo Bay verlegt worden. Was man häufig über die Haftanstalt in Bagram hört, ist, daß die Menschen dort allen Arten von Folter ausgesetzt werden, und dann hat man das mit Guantánamo verglichen. Wenn du die verschiedenen Gefängnisse vergleichen müßtest, in denen du gefangengehalten wurdest - von Marokko über das "dunkle Gefängnis" über Bagram nach Guantánamo, welches davon, würdest du sagen, war das schlimmste?

BM: Persönlich fand ich das "dunkle Gefängnis" am schlimmsten, und zwar deshalb, weil es nicht dazu da war, Informationen zu sammeln - denn es war nicht als Haftanstalt eingerichtet -, sondern sprichwörtlich dazu diente, jemand um den Verstand zu bringen.

CP: Könntest du das "dunkle Gefängnis" und wie es dort ist ein bißchen beschreiben - denn es hat von denen, die dort gefangengehalten wurden, viele Berichte gegeben, die miteinander übereinzustimmen scheinen - nur um von dir im Vergleich zu hören, wie es auf dich gewirkt hat: wie war es im "dunklen Gefängnis"?

BM: Gleich von Anfang an, wenn man nicht schlafen kann, obwohl man wirklich so erschöpft ist, daß man nicht wach bleiben kann - merkt man, daß man sich an einem Ort befindet, wo der eigene Verstand einen in die Irre führt, bei mir bis dahin, daß ich nicht mehr sicher war, ob ich überhaupt existierte... In den anderen Gefängnissen, in denen ich war, fragte man sich: "Wann ist das hier zuende?". Im "dunklen Gefängnis" überlegte man nicht: "Geht das hier irgendwann zuende?", sondern: "Ist das hier real?"

CP: Eine der härtesten Sachen für mich, der ich selber in Bagram gefangengehalten wurde, war - ich wußte, daß ich meine eigene Mißhandlung aushalten konnte, wenn sie mich in Bagram oder Kandahar oder Guantánamo quälten - doch das Härteste war, mitansehen zu müssen, wenn es jemand anderen traf. Hast du regelmäßig gesehen, wie andere Leute von den amerikanischen Soldaten mißhandelt wurden?

BM: Ich habe alle Arten von Mißhandlungen und Erniedrigungen gesehen, die Amerikaner benutzten es aber in der Regel als ein Mittel, zwischen denen, die sie mochten, und denen, die sie nicht mochten, zu unterscheiden.

CP: Zwischen denen, die kooperierten, und denen, die es nicht taten?

BM: Ja - sogar in dem Gefängnissystem. Wenn man von Mißhandlungen verschont blieb, dann wollte man sich nicht für diejenigen einsetzen, die mißhandelt wurden, denn man könnte sich plötzlich selbst als Objekt der Mißhandlung wiederfinden. Dies geschah zum Beispiel in Bagram. Es gab einen Afghanen, der mindestens 20 Schüsse abbekommen hatte, und der Mann... er war praktisch nur Haut und Knochen, denn er konnte nicht essen ... und sie hatten ihn von dem Krankenhaus, in dem er gelegen hatte, zur Anstalt in Bagram geflogen, einfach um den Insassen dort Angst einzujagen ... Die Amerikaner schert es einen Dreck - sie stöbern dich draußen auf, jagen dir 20 Kugeln rein, bringen dich ins Krankenhaus - du fängst gerade wieder an zu gehen, und sie stecken dich ins System. Wirklich, der Mann konnte nicht nur nicht alleine gehen, er konnte nicht einmal richtig sitzen... Einmal war er in der dusche und sie wollten ihn zwingen, selbst aus der dusche in die Isolationszelle zurückzugehen. Und der Mann konnte nicht laufen, also hat er darum gebeten, sich hinsetzen zu dürfen. Und dieselben Wachleute, die nur einen Tag vorher gelächelt und mit uns gelacht haben -, sagten ihm, er müßte gehen. Ich versuchte zu intervenieren, aber ich konnte nicht. Die anderen Brüder versuchten zu intervenieren, aber es gelang ihnen auch nicht. Also kam es zu einer Art Konfrontation, wo wir versuchten, sie davon zu überzeugen, daß sie so nichts erreichen würden. Doch sie wollten nichts davon wissen. Das war nun in Bagram, und was geschah, war recht einfach. Wir gerieten in diese Konfrontation, bei der der Typ oben auf dem sogenannten "Laufsteg", auf der Brücke über uns, der die Duschen beobachtet, sein Gewehr nahm. Er war kurz davor, das Feuer auf uns zu eröffnen, nur weil wir versuchten, den Wachleuten zu sagen, sie sollten dem Mann erlauben, sich hinzusetzen und eine Pause zu machen und dann in seine Zelle zurückzugehen.

CP: Hatte der Wachmann schon eine Kugel im Lauf - hatte er das Gewehr bereits scharfgemacht?

BM: Er war kurz davor zu schießen ... er war kurz davor, das Feuer zu eröffnen. Und dies war die Art von Konfrontation, die sich entwickelte, wenn wir versuchten, uns gegen die Unterdrückung, die wir innerhalb des Systems sahen, zur Wehr zu setzen. Wir konnten es nicht.

CP: Etwas, woran ich mich in Bagram erinnern kann, war, daß selbst die Frage nach der Möglichkeit, zusammen zu beten, den Adhan (den Aufruf zum Gebet) ertönen zu lassen oder den Koran zu lesen, als Vergehen betrachtet wurde. Hast du irgendetwas davon erlebt?

BM: In Bagram konnten wir auf gar keinen Fall zusammen beten, nicht einmal zwei Personen zusammen, geschweige denn eine Gruppe. Wenn sie welche sahen, die nebeneinander beteten, zwangen sie sie, aufzuhören. Und wenn man nicht aufhörte, landete man in Isolationshaft und erlitt all die anderen Mißhandlungen, die sie anwenden - das Zusammenbinden für sechs oder acht Stunden oder was auch immer.

CP: Glaubst du, daß die amerikanischen Soldaten das machten, weil sie einen echten Haß auf den Islam hatten und nichts darüber wußten, oder weil sie den Befehl dazu hatten?

BM: Ich würde sagen, daß es eine Mischung aus beidem ist. Ich meine, die meisten von ihnen taten es wirklich, weil sie den Islam haßten. Und es gab auch einige, die machten es, weil es ihr Befehl war. Die Unwissenden bildeten lediglich ein Prozent, würde ich sagen - es gab nicht viele unwissende Leute dort.

CP: Ich glaube, daß Unwissenheit Haß erzeugt, nach meiner Erfahrung hatten die meisten dieser Kerle einen Haß, weil sie unwissend waren. Denn wenn sie es besser gewußt hätten, hätten sie etwas Respekt für die Religion des Islam gehabt. Selbst die Vorstellung von ein bißchen grundlegender Normalität, die man an einem solchen Ort erwarten könnte - wohlgemerkt, sie befinden sich in einem muslimischen Land und verwalten dort muslimische Gefangene -, glaubst du wirklich, daß sie viel von der Kultur, Sprache und Religion der Menschen, die sie bewachten, wußten?

BM: Das Problem mit den Amerikanern in Afghanistan war, daß sie die Araber haßten, aber mehr noch haßten sie die Afghanen. Deshalb haben sie versucht, die einen gegen die anderen auszuspielen, und wollten ein System installieren, demzufolge wir die Afghanen und die Afghanen uns hassen sollten.

CP: Das alte 'Teile und herrsche'?

BM: Teile und herrsche, genau. Ich glaube nicht, daß die Entscheidungsträger so dumm waren, daß sie nichts über den Islam wußten, bevor sie in Afghanistan einmarschierten. Diejenigen auf den unteren Rängen, die Fußsoldaten, die haben einfach Befehle ausgeführt, und am Ende des Tages werden sie immer noch Befehle ausführen, ob sie etwas über den Islam wissen oder nicht.

CP: Daraus ergibt sich die Frage, ob du auf irgendwelche Soldaten gestoßen bist, die in deinen Augen gute, normale, aufrechte Menschen waren, mit denen man sich unterhalten konnte, die Verständnis hatten?

BM: Da ich Englisch beherrschte, war ich in der Position, daß ich mit vielen von ihnen ins Gespräch kam. Wann immer sie ihre Dateien durchlasen und die Kurzbiografien von Leuten kontrollierten, stellten sie fest, daß ich in den USA gewesen war, also hatten sie etwas, worüber sie mit mir sprechen konnten. Es war irgendwie... es gab halt etwas Gemeinsames, worüber sie mit mir sprechen konnten. Aber mit den restlichen Gefangenen war es so, daß sie sich gar nicht für sie interessierten.

CP: Und hast du es damals als Segen empfunden, daß du Englisch gesprochen hast, oder war es ein Segen und ein Fluch, oder war es einfach nur ein Fluch?

BM: Manchmal war es wirklich ein Segen und andere Male ein Fluch.

CP: Weil jeder dich verhören will, weil du jeden Befehl verstehst?

BM: Ja... Es funktioniert in beide Richtungen. Sie stellen fest, daß sie mich nicht so mißhandeln können wie jemanden, der kein Englisch spricht, weil sie bei jemandem ohne Englischkenntnisse nicht befürchten müssen, daß er einen Vorfall meldet. Wer kein Englisch spricht, braucht einen Übersetzer, und die Übersetzung geht dann eben verloren.

CP: Worauf ich auch in Bagram gestoßen bin, war jemand, der schrecklich verwundet worden war - sein Auge war von einer Kugel getroffen worden und er hatte riesige Austrittswunden in der Schulter und in der Brust. Und das war der Junge Omar Khadr, der als einziger Kanadier, als einziger Westler, noch in Guantánamo ist. Ich habe ihn nicht in Guantánamo getroffen, ich bin ihm lediglich in Bagram begegnet und ich war... mein Herz hat für ihn geblutet, denn er war ein lieber Junge und nur mitanzusehen, wie er versuchte, den Koran zu rezitieren, hat mich zu Tränen gerührt. Hattest du viel Kontakt zu Omar?

BM: Omar Khadr war dieser liebe Junge, aber als ich ihn traf, war er bereits ein junger Mann. Ich bin ihm begegnet, als gegen uns beide vom Militärtribunal Anklage erhoben wurde - man brachte uns in demselben Trakt unter.

CP: Gegen Euch beide hat das Militärtribunal Anklage erhoben?


Zensierte Zeichnung von einer Anhörung von Binyam in Guantánamo am 6.4.2006. Janet Hamlin/AP Photo

BM: Wir wurden beide fast zur gleichen Zeit im November 2006 angeklagt. So kam es, daß wir uns Anfang 2007 im Lager 5 begegneten. Daraufhin lernten wir einander kennen. Ich hatte ihn schon mal gesehen - ich war ihm in dem anderen Trakt begegnet, aber anders, denn jetzt fingen wir an, die Pausen zusammen zu verbringen...

CP: Bei der Pause, beim Hofgang?

BM: Nun, sie nennen es den Hof, aber im Grunde ist es nur ein kleiner Käfig - vier mal vier -, dort haben wir über Monate zusammengesessen und viel miteinander geredet.

CP: Also erlaubten sie Euch, in dem gleichen Hof zusammen zu reden und gemeinsam zu gehen?

BM: Eigentlich war ich in meinem Käfig und er in seinem eigenen Käfig - es gab nicht so viel Interaktion. Doch immerhin konnten wir viel freier miteinander reden als im Trakt selbst.

CP: Welchen Eindruck hattest du von Omar Khadr?

BM: Ich fand es ziemlich absurd, daß ein Junge nach dem System des Militärtribunals angeklagt und als üble Person dargestellt wurde. In Wahrheit - und da haben die Amerikaner einen Fehler gemacht -, steht Omar als junger Muslim da, der von den Amerikanern ohne offensichtlichen Grund unterdrückt wird außer dem, daß er ein Moslem ist. So sieht's aus. Und ich meine, wenn man Omar kennenlernt, merkt man, daß er ein ganz normaler Mensch ist.

CP: Einer von den Leuten, die ich in Bagram getroffen habe, ist ein US-Vernehmungsbeamter, der sich jetzt gegen das amerikanische Militär gewandt hat wegen dem, was sie in Afghanistan und im Irak getan haben. Er kannte auch Omar Khadr und ich habe mit ihm gesprochen - ich habe mit ihm vor einigen Wochen telefoniert - und jetzt tritt er als Entlastungszeuge für Omar Khadr auf, denn er war zum fraglichen Zeitpunkt Vernehmungsbeamter und er sagt, er habe erkannt, daß das, was passiert ist, falsch war und versuche deshalb, etwas dagegen zu unternehmen.

BM: Ich meine, wir warten schon so lange darauf, daß die Leute anfangen, endlich die Verantwortung für die Verbrechen, die sie begangen haben, zu übernehmen. Während sie uns, unabhängig davon, ob Anklage erhoben worden ist oder nicht, als Kriminelle abstempeln, sitzen die wahren Verbrecher im Weißen Haus oder im Pentagon oder wo auch immer... Die Leute müssen anfangen, die Verantwortung für ihre Taten zu übernehmen.

Bei einer Demo für die Guantanamo-Häftlinge in London, im Januar 2008; eine Aktivistin von Brighton hält ein Plakat mit dem Bild von Binyam Mohamed

CP: Was hat dir, als Ex-Gefangenem, der soviel Zeit im Gewahrsam der USA verbracht hat, die Stärke gegeben zu sagen, ich konnte das überleben - woher stammte deine Kraft?

BM: Kraft kommt von Allah - es gibt keinen anderen Ort, woher sie kommt, außer von Allah. Und wenn es Allah nicht gäbe, wären wir ganz und gar verloren gewesen.

CP: Einige der amerikanischen Soldaten haben mir oft gesagt: "Wäre ich in so einer Zelle eingesperrt, wäre ich daran zerbrochen." Und ich habe ihnen geantwortet und ihnen gesagt, daß es immerhin fünf Dinge am Tag gab, auf die ich mich freuen konnte. Aber es war nicht normal - selbst diese fünf Dinge nicht, die fünf Gebete, die man sprach. Wie hast du es geschafft, deine Gebete zum Jumu'ah (Freitag), zum Eid, in der Gemeinschaft zu sprechen ... wie ist dir das alles gelungen?

BM: Traurigerweise habe ich in keinem der Gefängnisse, in denen ich war, in der Gemeinschaft beten können.

CP: Sieben Jahre lang hast du niemals in der Gemeinschaft, in der Jama'ah gebetet?

BM: Nein, es gab kein Gemeinschaftsgebet an irgendeinem der Orte, an denen ich gewesen bin.

CP: Und was ist mit Jumu'ah und Eid?

BM: Keine Jumu'ah, keine Eid. Zu keinem Zeitpunkt habe ich diese Gebete in der Gemeinschaft gesprochen. Der einzige Ort, wo in der Gemeinschaft gebetet werden durfte, wo es möglich gewesen wäre, war im Lager 4 - und ich war niemals im Lager 4.

CP: In den einzelnen Trakten gibt es keine Gemeinschaftsgebete, doch die Leute beten immerhin hintereinander. Nur um es zu erläutern: In Camp Delta gibt es 24 Zellen auf jeder Seite - insgesamt 48. Die Person, die vorne war, egal, wer es war, führte das Gebet an. Und so ging es vonstatten, doch niemand konnte physisch beieinander stehen.

BM: Nein, man durfte nicht beisammenstehen. Ich meine, ich machte meine Erfahrungen vorwiegend im Lager 5 und Lager 6, in denen man die Person vor einem nicht einmal sehen konnte, da ist nur eine Mauer.

CP: Das sind Betonmauern im Gegensatz zu den Käfigen, in denen man die anderen Leute sehen kann.

BM: Und der Ton war ganz leise - er kam durch die Türritzen. Es war nicht wie in den Käfigen, wo der Ton sich ausbreitete. Doch die Menschen hielten die Gebete - die Gemeinschaftsgebete, wie sie sie nannten - ein, um zusammen zu sein, denn das war es, was die Brüder wollten, zusammensein, und... im Lager 5 und Lager 6 wird es immer noch so gemacht.

CP: du sagst natürlich, daß die Brüder zusammensein wollten, und dort ist das Konzept der Bruderschaft, gerade wegen der widrigen Umstände, enorm wichtig. Es gibt da einen ganz besonderen Bruder, der in einem Teil der Presse als eine der einflußreichsten Personen in Guantánamo Bay gilt. Dieser Bruder sollte ebenfalls mit dir im Flugzeug sein - zumindest hast du das gedacht - als du nach Großbritannien zurückkamst. Könntest du mir etwas über diesen Bruder erzählen?

BM: Dieser Bruder, Shaker Aamer, der mit mir im Flugzeug sein sollte - hatte in Guantánamo großen Einfluß. Ich meine, er hat für eine Menge Veränderungen gesorgt - zum Beispiel was die vielen Mißhandlungen betrifft, die die Brüder durchmachten. Er hat viel verändert.

CP: Und wie hat er diese Veränderungen bewirkt?

BM: Indem er die Brüder zusammenbrachte und tatsächlich einen Deal mit den Amerikanern aushandelte - indem er zu den Amerikanern ging mit einem Vorschlag, was sich verändern sollte. Und es funktionierte eine Weile ganz gut, bis sich einige Vernehmungsbeamte einmischten und Shaker die Schuld bekam.

CP: du sprichst jetzt von den Hungerstreiks und den Rechten, die er für die Gefangenen zu erstreiten versuchte - besseres Essen, keine Verunglimpfung des Koran, daß die Gefangenen sich nicht bei jedem Anlaß zur Durchsuchung ganz ausziehen mußten und solche Sachen. Ist das korrekt?

BM: Das sind die Dinge, mit denen er befaßt war. Und ich war praktisch gleich in der Zelle nebenan. Er war in Zelle 17 und ich in Zelle 19 (zwischen uns lag nur eine Zelle), und ich wußte genau, was er vorhatte. Und wir haben versucht, alle diese Dinge zu verändern, und wir haben viel erreicht. Das war damals, 2005. Aber als dann ein Vernehmungsbeamter beim Verhör einen der Gefangenen zusammenschlug, brach ein Aufstand los. Ab 2005 wurde Shaker daraufhin von uns isoliert.

CP: Und er wurde von allen abgeschottet und in einer der Isolationszellen in Camp Echo gefangengehalten.

BM: Er saß von 2005 bis, glaube ich, 2008 in Camp Echo ein. Sie haben erst vor einigen Monaten entschieden, ihn von dort zu verlegen.

CP: Shaker Aamer war einer meiner engsten Freunde, obwohl ich ihn in Guantánamo oder Bagram niemals gesehen habe. Und mit das Schlimmste war für mich zu wissen, daß wir beide während der Haft in Guantánamo einen Sohn bekamen. Seine komplette Familie ist hier in Großbritannien. Sie sind alle Briten. Sein jüngstes Kind ist fast acht Jahre alt und er hat es in seinem Leben noch nie gesehen. Kannst du dich daran erinnern, daß Shaker überhaupt über seine Familie sprach, oder wie er damit klar kam, solange Zeit von ihr getrennt zu sein?

BM: Als ich mit Shaker zusammen war, war er wirklich mit den Hungerstreiks vollauf beschäftigt und das war immer so in Guantánamo. Natürlich sprach er von seinem Sohn und davon, wie gern er zu ihm kommen und bei seinem Sohn sein würde. Und in der Tat hoffte er, nach Großbritannien zu kommen, seine Familie zu sehen und mit ihr zusammen leben zu können. Und ich meine, damals, 2005, gab es die Hoffnung, er würde hier sein - ich meine, er rechnete damit, daß er eines Tages nach Großbritannien kommen und mit seiner Familie zusammentreffen würde.

CP: Shaker ist immer noch nicht freigelassen worden, obwohl du Grund zu der Annahme hattest, daß er mit dir im Flugzeug sein würde?

BM: Ich habe im Flugzeug mit Beamten des britischen Außenministeriums über Shaker gesprochen, und sie haben gesagt, daß er im Flugzeug sein sollte, und daß Großbritannien die USA um seine Freilassung gebeten hatte. Das einzige Problem ist allerdings zur Zeit, daß die USA sich weigern, Shaker nach Großbritannien freizulassen.

CP: Sie lehnen es ironischerweise nicht ab, weil er vom Militärtribunal angeklagt werden sollte oder so etwas, sondern weil er eine einflußreiche Person ist.

BM: Ich würde sagen, die Amerikaner versuchen, ihn so still wie möglich halten. Nicht, daß er etwas wüßte - die Amerikaner wollen nicht, daß die Welt erfährt, was 2005 und 2006 passiert ist, Hungerstreiks, all die verschiedenen Vorfälle, die sich ereigneten, bis hin zu den drei Brüdern, die gestorben sind - also Insiderinformationen über die Ereignisse. Vermutlich, offensichtlich hat Shaker keine solchen, doch die Amerikaner glauben, er könnte irgendwelche Kenntnisse dieser Art haben, die sie nicht veröffentlicht haben wollen. Und so versuchen sie, die Freilassung eines Menschen zu verschleppen. 2007 befand ich mich in der gleichen Situation. Damals sollte ich mit drei weiteren Insassen freigelassen werden. Doch weil ich in dieser Sache - die Hungerstreiks von 2005 und die Todesfälle - gegenüber den amerikanischen Behörden Recht hatte, haben sie beschlossen, meine Freilassung zu verschieben.

CP: du hast viel über die Hungerstreiks geredet. Ich war oft in Nordirland und habe mit vielen ehemaligen IRA-Häftlingen und mit vielen der Hungerstreikenden gesprochen und sogar Leute getroffen, die mit Bobby Sands zusammen waren, bevor er starb. Glaubst du, daß der Hungerstreik [in Guantánamo] wirklich etwas bewirkt hat?

BM: Damals 2005 ganz bestimmt - er hat alles verändert. Die Amerikaner kamen und erklärten, daß sie das Gesetz einhalten. Denn vor 2005 gab es in Guantánamo kein Gesetz, gab es keine Regeln. Der Oberst sagte, "Ich tue, was ich will", und das war's. Doch nach dem großen Hungerstreik von 2005 haben sie angefangen, sich an bestimmte Regeln zu halten, über die wir Bescheid wußten. Nicht daß wir uns groß darüber freuten, doch immerhin gab es eine Art von Regeln in Guantánamo, die angewendet wurden.

CP: Keiner von uns wurde wie ein Kriegsgefangener behandelt. Glaubst du, wenn es so gewesen wäre, daß es dann weniger Probleme zwischen den Gefangenen und der Verwaltung gegeben hätte?

BM: Nun, ich meine, man braucht sich nur Lager 4 anzuschauen. Im Lager 4 gab es viele Menschen, aber es gab nie irgendwelche Probleme zwischen den Gefangenen und der Verwaltung oder den Wachmännern. Zwar ist Lager 4 nicht mit einem Kriegsgefangenenlager zu vergleichen, aber es hat dort niemals irgendwelche Probleme gegeben. Die ganzen Probleme gibt es in Lager 5 und Lager 6, in denen es zu Isolationshaft und Segregationen kommt, die die Amerikaner als solche nicht anerkennen wollen.

CP: Wenn du von Segregation sprichst, was meinst du damit?

BM: Nach meiner Auffassung besteht Segregation dann, wenn man in einer Einzelzelle isoliert ist, wenn man von Nachbarn getrennt gehalten wird. Die amerikanische Art der Segregation besteht darin, die Betroffenen von der Öffentlichkeit abzuschotten, damit sie keinen anderen Menschen zu sehen bekommen. Folglich definieren sie das Lager 5 nicht als Segregationslager. Das gleiche gilt für Lager 6.

CP: Das heißt, die Leute waren isoliert in Zellen, bekamen niemanden zu sehen und hatten keinen Kontakt zu anderen?

BM: Genau so sieht es Lager 5 und Lager 6 aus.

CP: Und glaubst du, daß sich einiges verändert hat, seit Barack Obama an die Macht gekommen ist und wie war die Atmosphäre in Guantánamo Bay, als das geschah?

BM: Mit dem Regierungswechsel veränderte sich in Guantánamo Bay überhaupt nichts. Die Gefangenen interessierte das nicht. Sie waren deswegen weder aufgebracht, noch waren sie glücklich darüber. Es kümmerte sie nicht, denn wir machen unsere Hoffnungen nicht an einer bestimmten Regierung fest und erwarten, daß sie kommt und für ein Ende der Unterdrückung sorgt. Unser Glaube richtet sich auf Allah, und Allah ist der Eine, der für ein Ende der Unterdrückung sorgen wird - nicht irgendeine neue Regierung. Deshalb scherten sich die Leute in Guantánamo nicht darum und verschwendeten keine Gefühle darauf. Die Unterdrückung seitens der Verwaltung in Guantánamo nahm noch zu und sie fingen an, Regeln, erniedrigende Regeln durchzusetzen und trieben dadurch die meisten von uns wirklich in den Hungerstreik. Wenn man die Zahlen vergleicht, sieht man, daß es vor dem Regierungswechsel zwischen zehn und zwanzig Hungerstreikende gab, direkt danach aber stieg die Zahl derer, die zwangsernährt wurden, auf mehr als vierzig Personen, und weitere Hundert befanden sich im Hungerstreik.

CP: Meinst du mit zwangsernährt, wenn sie jemanden ans Bett fesseln, mit Gewalt einen Schlauch durch die Nase einführen und die Aufnahme von Flüssignahrung erzwingen?

BM: Ja, genau das nennen wir in Guantánamo Zwangsernährung.

CP: Und du sagst, die Hungerstreiks fanden noch statt, als du dort weggingst bzw. sind immer noch im Gange, während wir hier reden?

BM: Ich wurde als der 41. Zwangsernährte registriert. Und nach mir gab es drei weitere Personen, die man für die Zwangsernährung registriert hat - allein in Lager 5. Daher nehme ich an, daß die Zahl, wenn die Regierung keinen Deal mit den Hungerstreikenden ausgehandelt hat, aktuell bei mehr als fünfzig liegen dürfte.

CP: Selbst jetzt, nachdem Obama erklärt hat, daß er Guantánamo schließen wolle und sogar verfügt hat - gerade letzte Woche -, daß die Leute nicht mehr als "feindliche Kombattanten" bezeichnet werden - trotz alledem befinden sich die Leute immer noch im Hungerstreik?

BM: Die Regierung sagt hier vieles, aber sie kontrolliert Guantánamo nicht. Guantánamo untersteht der Joint Task Force (JTF) und der Joint Defence Group (JDG), und sie sind diejenigen, die dort die Regeln erlassen. Und die Art, wie sie damit umgehen, ... nun, als ich da war, hat sich nichts verändert. Es wird immer schlimmer. So ist das.

CP: Was, glaubst du, wird bzw. sollte mit den Gefangenen passieren, die noch dort sind?

BM: Ich meine, ich hätte gehört, daß diese neue Regierung den Laden innerhalb eines Jahres schließen will. Man braucht kein Jahr, um die Menschen freizulassen. Man braucht kein Jahr, um den Laden dicht zu machen. Wenn diese Regierung ein Unrecht korrigieren wollte, müßte sie nur das Tor aufmachen und die Menschen herauslassen.

CP: Die größte Gruppe derjenigen, die dort gefangenen gehalten werden, bilden die Jemeniten. Gibt es bei den Jemeniten etwas besonderes, was die Amerikaner deiner Meinung nach bisher daran gehindert hat, sie freizulassen?

BM: Ich glaube, die Amerikaner hoffen bzw. drängen auf Veränderungen in Jemen, und die Politik blockiert die Freilassung der Jemeniten. Hier mischt sich die Politik in die Justiz ein, dabei sollte die Justiz über der Politik stehen. Doch in der Welt, in der wir derzeit leben, ist es nicht so.

CP: Die Hauptleidtragenden des 'Antiterrorkrieges' und natürlich die Menschen, die in Guantánamo gefangengehalten werden, sind ausschließlich Moslems. Was wäre die Pflicht der Menschen in der muslimischen Welt denjenigen gegenüber, die in Guantánamo und in den geheimen Internierungslagern festgehalten werden?

BM: Sie sollten sie in ihren Gebeten nicht vergessen und sie unterstützen, wie immer sie auch können.

CP: Es gibt viele Menschen, die glauben, daß all das, was du oder ich oder andere, die in Guantánamo gefangengehalten worden sind, erlebt haben -, mehr ist, als ein Mensch ertragen kann, und daß man nach einer solchen Erfahrung nach Hause zurückkehren, sich bedeckt halten und sich in nichts verwickeln lassen sollte, indem man sich für die Rechte von anderen Gefangenen einsetzt. Wie wäre deine Antwort darauf?

BM: Diese letzten sieben Jahre haben mich viel gelehrt. Ich habe Dinge gelernt, von denen ich gar nichts wußte, Dinge, die ich ohne diese Erfahrung nicht hätte lernen können. Sich aus Angst bedeckt zu halten, ist keine Entschuldigung dafür, seiner Pflicht nicht nachzukommen. Wir haben es hier mit Unterdrückung zu tun und wir müssen uns dagegen wehren.

CP: Trotz der vielen schrecklichen Dinge, die in Guantánamo passiert sind, sind daraus nicht wenige Dinge hervorgegangen, die wir nicht erwartet hätten. Viele der Gefangenen - einschließlich meiner Person - haben in Guantánamo und Bagram große Teile des Koran auswendig gelernt. Wie hoch, meinst du, dürfte derzeit in Guantánamo der Prozentsatz derer sein, die heute den Koran fast ganz auswendig kennen?

BM: Ich würde sagen, neunzig Prozent haben den Koran auswendig gelernt und selbst die anderen zehn Prozent haben ihn auswendig gelernt und lediglich Teile davon vergessen, denn die Situation, in der man sich in Guantánamo befindet, ist so, daß es nicht einfach ist, sich auf sich selbst zu konzentrieren.

CP: Es gab eine Zeit, in der der Koran aus den Zellen entfernt, verunglimpft und weggeworfen wurde. Und einige Gefangenen haben beschlossen, daß sie den Koran in ihren Zellen nicht mehr haben wollten. Wie haben diese Gefangenen ihre... Studien des Koran fortgesetzt?

BM: Es war erstaunlich. Auch ich hatte die meiste Zeit keinen Koran, aber ich habe jemanden, der den Koran auswendig kannte, dazu gebracht, mir einen Vers vorzutragen, und darüber habe ich ihn auswendig gelernt und ihn den ganzen Tag lang wiederholt. Man staunt nicht schlecht, denn man glaubt, es wäre zeitraubend, doch am Ende des Jahres stellt man fest, daß man auf diese Weise fast die Hälfte des Koran auswendig gelernt hat.

Binyam bei seiner Ankunft in London am 23.2.2009. Foto Lewis Whyld /AP

CP: Tatsächlich ist das der Weg, wie der Koran dem Propheten, Salla Allahu alayhi wasallam (Friede sei mit ihm), offenbart wurde, und wie er über die Sahaabah (seine Kampfgefährten, mögen sie bei Allah Gefallen finden) verbreitet wurde. Der Prophet, Salla Allahu alayhi wasallam (Friede sei mit ihm), war an-Nabee al-Ummee - er konnte weder lesen noch schreiben, also hat man von Mund zu Mund übertragen. Und wenn es die Huffaadh (die, die auswendig lernten) nicht gegeben hätte, die häufig bei den frühen Schlachten ums Leben kamen, wäre der Koran nicht zur Buchform gelangt. Umso bemerkenswerter ist es, daß die Leute zu dieser Art des Koranlernens zurückgekehrt sind. Haben sich die Leute auf diese Weise nur den Koran gegenseitig beigebracht, oder haben sie so auch andere islamische Wissenschaften oder andere Wissenschaften überhaupt miteinander besprochen?

BM: Es wurde genauso mit den Hadith (Berichte über den Propheten, Salla Allahu alayhi wasallam (Friede sei mit ihm), und jedem anderem Wissen, das es dort gab, verfahren. Und besonders in Guantánamo wurde das Wissen nur mündlich weitergegeben - es konnte nicht geschrieben werden.

CP: Und so können verurteilte Gefangene, auch für einige der schlimmsten Taten Verurteilte, muß ich sagen, im Gefängnis für ihren Doktortitel oder einen Bachelor-Grad und o.ä. studieren. Hattest du solche Möglichkeiten, obwohl gegen dich keine Anklage erhoben worden ist?

BM: Ich konnte nur einen Doktor in Sachen Folter und Mißhandlung machen und habe dafür aus Guantánamo einen Doktortitel mitgenommen... mehr haben wir nicht bekommen.

CP: du bist jetzt ein freier Mann bzw. ein relativ freier Mann, denn es gibt in deinem Fall noch bestimmte Auflagen. Was sind deine Hoffnungen für die Zukunft? Was, meinst du, sollte geschehen - in deinem eigenen Fall und auch für die Situation der noch verbliebenen Gefangenen vor Ort?

BM: Ich hoffe, daß mein Fall irgendwann erledigt ist - sei es durch das Innenministerium oder das Außenministerium - und was die Gefangenen betrifft, so wünsche ich mir Gerechtigkeit und keine Propaganda, die Freilassung aller Gefangenen in Guantánamo und in den anderen Gefängnissen.

CP: Wir - die ehemaligen Guantánamo-Bay-Häftlinge, oder besser gesagt, viele von uns - haben Klage gegen die britische Regierung eingereicht wegen Beteiligung an unserer Folter. Findest du, daß die Regierung oder die Geheimdienste Großbritanniens zur Rechenschaft gezogen werden sollten, oder sollten sie sich einfach entschuldigen und das war's?

BM: Ich meine, daß viel mehr als nur eine Entschuldigung notwendig wäre. Eine Entschuldigung ist nicht genug. Vielleicht eine Entschuldigung und eine Veränderung ihrer Politik.

CP: Gerade in den letzten Wochen ist bekannt geworden, daß gegen die britischen Geheimdienste viele Vorwürfe erhoben worden sind wegen der Verwicklung in die Folter an britischen Bürgern in so weit entfernten und unterschiedlichen Ländern wie Ägypten, Pakistan, Bangladesh und Marokko, wie in deinem Fall - und Afghanistan und Pakistan bei mir. Ich meine, daß Problem ist viel größer als bisher zugegeben. Glaubst du, daß sie irgendwann einmal reinen Tisch machen werden?

BM: Ich glaube, daß die britische Regierung - im Gegensatz zu den Amerikanern - irgendwann in der Zukunft vieles davon eingestehen könnte. Ich glaube, daß die Briten einfach klüger sind, wenn es um solche Sachen geht.

CP: Jazak Allah khair (möge Allah dich mit Gutem belohnen), Binyam Mohamed. Möge Allah alle deine Kämpfe anerkennen und sie dir am Tage des Jüngsten Gerichtes aufwiegen. Baarak Allah feek (möge Allah dich segnen).

BM: Wa iyyakum (dich ebenfalls).


Quelle: Moazzam Begg in Conversation with Binyam Mohamed

Originalartikel veröffentlicht am 26.3.2009

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