Donnerstag, 13. August 2009

ad sinistram: Verrat am Mitgeteilten


ad sinistram: Verrat am Mitgeteilten

Verrat am Mitgeteilten

Donnerstag, 13. August 2009

"Man wird als Schriftsteller die Erfahrung machen, daß, je präziser, gewissenhafter, sachlich angemessener man sich ausdrückt, das literarische Resultat für um so schwerer verständlich gilt, während man, sobald man lax und verantwortungslos formuliert, mit einem gewissen Verständnis belohnt wird. [...] Die zeitgemäße Logik, die auf ihre Klarheit so viel sich einbildet, hat naiv solche Perversion in der Kategorie der Alltagssprache rezipiert. Der vage Ausdruck erlaubt dem, der ihn vernimmt, das ungefähr sich vorzustellen, was ihm genehm ist und was er ohnehin meint. Der strenge erzwingt Eindeutigkeit der Auffassung, die Anstrengung des Begriffs, deren die Menschen bewußt entwöhnt werden, und mutet ihnen vor allem Inhalt Suspension der gängigen Urteile, damit ein sich Absondern zu, dem sie heftig widerstreben. Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei. Wer ihr entgehen will, muß jeden Rat, man solle auf Mitteilung achten, als Verrat am Mitgeteilten durchschauen."
- Theodor W. Adorno, Moral und Stil aus der "Minima Moralia" -
Ein solches intellektuelles Jammertal, ein demoralisierendes Kampffeld, spiegelt sich in jenen Tagen in unseren Straßen wider. Es ist Wahlkampf: Gesichter, Brüste und Parolen prangern von Plakaten. Die verschlagwortisierte Gesellschaft wirft mit Wortfetzen um sich, die keiner erst verstehen muß, weil sie an sich sowieso schon verständlich sind, weil man ohnehin wusste, was gemeint war. Der Wahlkampf ist die absolute Perversion des verstümmelten Wortes, ist die höchste Disziplin des Sprechens, ohne dabei etwas zu sagen, dabei aber den Zuhörern Glauben machend, genau das gesagt zu haben, was ihnen schon immer unter den Nägeln brannte. Es ist die Kunstfertigkeit, den entwöhnten Menschen handzuhaben. Dem der strengen Eindeutigkeit des Wortes entwöhnten Menschen, der präzise und gewissenhafte Auslegungen der Worte als unverständlich abtut, einen Nasenring zu verpassen.

Die Tragik dieses Umstandes ist es heute nicht mehr, dass Eindeutigkeiten verschwunden sind, um Schlagworten, die beinahe immer doppeldeutig auslegbar sind, Zeilenhonorar zu sichern. Daran haben wir uns gewöhnt; wir sind des klaren Wortes Entwöhnte, die gewohnt des unklaren Ausdrucks sind; wir sind des Gegenteils anheimgestellt, intellektuell vom anderen Ufer, sind entfremdet, sind fremd in Sphären der Sprache. Die eigentliche Tragik dieses Umstandes, der zum täglichen Geschäft geworden ist, ist die Eindimensionalität der leichten Kost. Es sind nicht nur Staatsparteien, die mit Schlagworten und gestutzten Phrasen um sich schleudern, es ist die Gesamtheit des parlamentarischen Spektrums, auch jene Gruppierungen, die qua ihrer politischen Ausrichtung dem staatspolitischen und parteilichen Verstümmelungsorgien fernstehen müßten. Oppositionellen Geist suggerierend, dabei auf einer Frontlinie vorwärts preschend, so gibt sich dieser Tage - nur um ein einschlägiges Beispiel heranzuziehen - auch die Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands (MLPD), die mit Losungen wie "Kinder brauchen Zukunft" oder "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser" von den Laternenmasten dieser Republik winken.

Es ist, gemäß Adorno, als Verrat am Mitgeteilten zu erfassen, wenn selbst Gegengruppierungen sich einreihen, um mit Sinn- und Merksprüchen zu hantieren. Dies ist der Maßstab, mit dem die intellektuelle Verkümmerung auswertbar wird. Die leere Worthülse, die jedem Zuhörer allerlei Phantasien in jede Richtung belässt, die nicht präzise festlegt, beschreibt, erklärt und darlegt, stattdessen eben phantastische Wanderungen in alle Richtungen zulässt, dieser Wortfetzen intellektueller Beleidigung also, ist nicht das Machwerk herrschender Gruppierungen alleine. Ist nicht ausschließlich neoliberales Programm, sondern die Verkümmerung einer zeitgenössischen Technik- und Fortschrittsgesellschaft generell. Denn der vage Ausdruck ist ein pragmatischer Operationalismus, die Benutzung und der Missbrauch der Sprache als Werkzeug - es muß gesprochen werden, um aus dem Gesprochenen profitieren, um also verstehen, danach handeln und Vorteile daraus ziehen zu können. Der präzise Ausdruck, auch die literarische Spielerei mit präzisen Ausdrücken, hat ausgedient. Diese antiquierte Sprachnutzung ist nicht darauf getrimmt, schnelle Profite zu zeitigen. Das gewissenhafte Wort kriecht nur langsam in Gehirnwindungen, kann Denkvorgänge anstossen, kann Erkenntnisse bewirken, die dem Profit sogar entgegengesetzt sind. Es ist daher störend und den Interessen der Gesellschaft zuwiderlaufend.

Der Wahlkampf offenbart Alternativlosigkeit, denn es ist die Wahllosigkeit zwischen Schlagwort-Jongleuren, zwischen Gruppen und Parteien, die dem Rate folgten, man solle auf Mitteilung achten. Sie haben damit womöglich nicht einmal Verrat am Mitgeteilten begangen, weil ursprünglich gar keine Botschaft im Raume stand, sondern nur die Mitteilung selbst. Am Anfang war das Schlagwort! Die Botschaft war nicht Gegenstand, es wurde erst nach dem Schlagwort gegenständlich. Es ist eine Herangehensweise an Politik, die den fehlenden Intellekt unserer Zeit trefflich beschreibt. Man will Menschen erreichen, ersinnt sich flotte Sprüche, baut einige Worte ein, die freudig erregen und von Konservativen wie Fortschrittlichen genauso positiv konnotiert werden, bleibt dabei aber Präzision schuldig. Man nistet sich in Schwammigkeit ein, weil erst das Erreichen der Menschen geplant ist, bevor es an konkrete Erklärungen gehen soll. Selbst wenn Menschen erreicht wurden, wenn man sich im Parlamentarismus ausgebreitet hat, scheitert es mit dem Konkreten, weil es nun um die Bewahrung von Interessen geht, um den Erhalt von Posten und Stellungen, die man mit viel Konkreta schnell wieder aufgeben müßte. Der entwöhnte Mensch möchte sich nicht intellektuell erschlagen fühlen, wenn er in den Bundestag zappt. Er will die Wahlfreiheit bewahren, wenn er dort Sprechern lauscht, die Begriffe wie "Zukunft", "Freiheit", "Gerechtigkeit" und "Chancen" benutzen. Er will solche Begriffe so oder so oder ganz anders auslegen dürfen. Gäbe der Vorleser eindeutig vor, was jeweilige Begriffe denn zu bedeuten hätten, dann fühlte sich der dem präzisen Wort entwöhnte Zeitgenosse um seine politische Teilhabe betrogen.

Daher hat der Appell an diejenigen, die sich heute als oppositionelle Geister innerhalb einer weitestgehend eindimensionalen Gesellschaft einstufen, folgendermaßen zu lauten: Achtet nicht auf die Mitteilung, denn sonst seid ihr Verräter am Mitgeteilten! Zurück bleibt die bittere Erkenntnis, dass innerhalb des Parlamentarismus kein Pluralismus stattfindet, selbst dann nicht, wenn ganz neue Interessensverbände die Sitzordnungen unter sich ausmachen würden. Auch dann blieben wir in Sphären der Schlagwörterei. Oppositioneller Geist hat sich dann erschöpft, wenn er Schlagworte um sich wirft und ins Anti-Intellektuelle abgleitet. Sich der Verschlagwortisierung zu entziehen, so scheint es, kann nur vom Individuum vollbracht werden; Gruppierung neigen zur Vereinfachung und zum Operationalismus der Sprache. Der Einzelne kann sich selbst treu bleiben, eine Gruppe kennt kein Selbst, dem man Treue schenken könnte. Die wahre Opposition liegt im individuellen Auftreten gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung und Erniedrigung - sofern das präzise Wort gewürdigt wird, sofern man mit Worten ringt, um sie zur Wahrheitsfindung zu benutzen.

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