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Wie man Massen steuert
Matthias Gräbner 11.02.2009
Massenaufmärsche, Fackelzüge, gemeinsamer Gesang: Wissenschaftler erforschen, wie Propaganda funktioniert, im Guten wie im Bösen
Bevor Sie diesen Artikel lesen, bittet der Autor um ein paar einfache Vorbereitungen. Schreiben Sie zunächst "Telepolis-Fan" auf ein Post-It und heften Sie sich das Papier deutlich sichtbar auf T-Shirt, Bluse, Hemd oder notfalls auch auf den nackten Oberkörper. Setzen Sie sich gerade hin und fangen Sie an zu singen: "Hoch auf dem gelben Wa-ha-gen…" Wie fühlt es sich an, wenn Sie wissen, dass es Ihnen in diesem Moment tausende andere Telepolis-Leser gleichtun?
Wenn man den Forschern glauben darf, dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder, Sie haben gerade mit einer Portion Dopamin Ihr Belohnungssystem aktiviert und sind ein kleines bisschen zufriedener als zuvor. Oder Ihr Gehirn hat soeben ein Fehlersignal generiert - eine Warnung, die Ihnen sagt, dass Sie nicht dem Weg der anderen gefolgt sind und diese Entscheidung doch bitte überdenken sollten.
Das schlussfolgert jedenfalls ein Forscherteam um Vasily Klucharev, das in der Fachzeitschrift Neuron entsprechende Magnetresonanz-Aufnahmen ausgewertet hat. Die Wissenschaftler meinen, auf diese Weise das soziale Lernen erklären zu können: Durch positive Verstärkung und Fehlerkorrektur lernt der Mensch, der Masse zu folgen.
Dass der Herdeneffekt tatsächlich funktioniert, haben jüngst die Psychologen Scott Wiltermuth und Chip Heath von der Stanford University im Fachmagazin Psychological Science gezeigt. Die Forscher haben sich angesehen, was passiert, wenn Menschen synchron handeln - typisch für Aufmärsche oder Gottesdienste. Denn eigentlich ist ein solches Verhalten widersinnig. In Reih und Glied zu marschieren, mag noch zu Napoleons Zeiten sinnvoll gewesen sein. Seit der Erfindung des Maschinengewehrs ist es im Ernstfall selbstmörderisch.
Auch wenn, wie die Geschichte zeigt, hier enormes Missbrauchspotenzial besteht: Der Herdentrieb muss in der Evolution als positives Selektionskriterium entstanden sein, sonst gäbe es ihn nicht mehr, oder uns. Ein Forscherteam um Jonathan Haidt von der Virginia University dikutiert im Journal of Legal Studies diese Tatsache und schlägt vor, sie zum Wohl des Menschen einzusetzen. Eine Gesellschaft, die aus vielen kleinen "Herden" mit einigen Hundert Mitgliedern besteht, könnte ihrer Meinung nach zu mehr Vertrauen und Kooperation auf lokaler Ebene führen.
Erst, wenn ganze Nationen oder Ethnien sich der Herden-Mentalität beugen, entstehen demnach Bilder, wie man sie von Nazikundgebungen kennt, die das Potenzial von Gewalt und Unterdrückung in sich tragen. Die Existenz vieler kleiner, lokaler Herden, meinen die Forscher, könnte sogar einer durch Demagogie entstehenden National-Herde vorbeugen. Ihr Argument: Menschen, die sich nach Einbindung in ein Netzwerk sehnen, sind für die Demagogie eines großen Führers anfälliger als solche, die ihre Bedürfnisse auf lokaler Ebene befriedigt sehen.
Ironie der Geschichte: Auch Leser von Wissenschaftsmagazinen können sich der Nutzung des Herdeneffekts nicht entziehen. Als die Online-Ausgabe des "New Scientist" einen Artikel zu diesem Thema mit dem Editorial "The Obama factor, revealed" (Der Obama-Faktor aufgedeckt) ankündigte, zeigten sich einige Kommentatoren erbost über die scheinbare Gleichsetzung des US-Präsidenten mit den faschistischen Diktatoren Hitler und Mussolini. Ihr folgerichtiger Aufruf: "Jeder sollte der Redaktion seine Kritik mitteilen. Lasst uns das jetzt gemeinsam durchziehen!"
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