Sonntag, 15. Februar 2009

Verbrechen des Krieges in Zeiten der Waffenruhe:

http://www.zeit.de/2009/08/DOS-Gaza


Krieg in Gaza

Warum starben Ibrahim und Kassab?

Freitag, 16. Januar 2009: Im Gaza-Streifen schießen israelische Soldaten auf einen Palästinenser und seine beiden Söhne. Der eine ist sofort tot. Der andere verblutet langsam in den Armen des Vaters. Kein Arzt darf helfen – Chronik eines unbegreiflichen Todes

Aus einem Krieg eine Geschichte vom Sterben zu erzählen ist nichts Besonderes. Im Krieg wird gestorben. Menschen werden getötet, gezielt oder aus Versehen. Lange Erklärungen gibt es. Und kurze. Bomben werden eingesetzt, Raketen, Sprengfallen, Handgranaten. Körper werden durchlöchert und zerrissen, verbrannt und verstümmelt. Im Schlaf wird gestorben, im Kampf, mit geladenen Waffen, mit leeren Händen.

Warum vom Tod eines einzelnen Menschen berichten, wenn auch zahllose andere gestorben sind, auf beiden Seiten? Über Schuld und Unschuld sagt diese Geschichte aus dem jüngsten Gaza-Krieg nichts aus. Trotzdem muss vom Tod eines einzelnen Menschen erzählt werden, weil nur dann verständlich wird, wie unverständlich es ist, das Sterben, so unverständlich wie ungeheuerlich.

Der Palästinenser Mohammed Shurab sucht noch immer nach Gründen für den Tod seiner Söhne. Sucht nach einem Fehler. Nach etwas, das ihm einen Hinweis hätte geben können. Aber da war nichts. Warum nur mussten seine Söhne sterben? Und warum in einer Feuerpause?

Der 63-Jährige sitzt auf der Dachterrasse seines Hauses in der Stadt Khan Younis bei einem Glas Orangensaft und erzählt von jenem 16. Januar 2009, an dem er seine beiden Söhne verlor, obwohl die Rettung so nah war. Er erzählt sie langsam, die ganze Geschichte, als könne er sie so besser begreifen. Er sagt: »Ich hatte nie Probleme mit Israelis. Nie.« Wieder und wieder sagt er diesen Satz. Er hält ihn vor sich wie einen Schutzschild, als hätte die versöhnliche Geschichte der Begegnungen, die er mit den Menschen der anderen Seite gemacht hat, all das abwehren müssen, was ihm während des Krieges im Gaza-Streifen widerfahren ist.

Nur vierhundert Meter von der israelischen Grenze entfernt liegt sein Zweithaus auf dem Land nahe dem Dorf al Foukhary, ein von Grapefruitbäumen umstandenes Idyll. Hierhin zieht sich Mohammed Shurab von Sonntag bis Donnerstag zurück, bevor er zurückfährt in die Stadt, jeden Freitag, immer über den lehmigen Sandweg, der in die asphaltierte Hauptstraße mündet, vorbei am kleinen Supermarkt, bis er ein paar Kilometer weiter in Khan Younis ankommt, der ruhigen Stadt im Süden von Gaza, wo er das Wochenende bei seiner Familie verbringt. Das Haus dort teilen sich Mohammed und sein Bruder Ibrahim mit ihren Kindern und der gebrechlichen Großmutter, die im Erdgeschoss auf einem Sofa ruht.

»Ich hatte nie Probleme dort«, sagt Mohammed, »nicht während der Besetzung von Gaza und nicht danach.« Er lächelt, wenn er von den früheren Besuchen der israelischen Soldaten erzählt. Wie sie mehrmals sein Haus durchsuchten, das wie ein Grenzstein an dieser Konfliktlinie zwischen Palästinensern und Israelis stand, die ihn aber immer unbehelligt ließen. Mohammed verstand das als Bestätigung seiner Unbefangenheit, als ein Gütesiegel vielleicht. Auch darum sucht er jetzt nach Gründen: Weil er noch immer glaubt, dass es der Gründe bedarf, um jemanden zu töten. Weil er nicht glauben will, was so viele andere glauben: dass die andere Seite ein Feind sein müsse. Weil er den Hass, der den Krieg im Nahen Osten schürt, nicht teilt. Und weil er den Hass aus seiner Geschichte des 16. Januar heraushalten will.

Wieder und wieder geht Mohammed Shurab den Ablauf dieses Tages durch, malt Wege und Straßen auf ein Blatt Papier, druckt Satellitenfotos von Google Earth aus, schützt seine Unterlagen mit Klarsichtfolien. Alles muss ordentlich sein. Wie sonst sollte er der Unordnung begegnen, die sein Leben zerstörte, an jenem Freitag, dem 16. Januar?

Am Mittag, gegen 12 Uhr, waren er und seine Söhne, der 28 Jahre alte Kassab und der 18 Jahre alte Ibrahim, in den roten Landrover gestiegen und losgefahren, vom Land in Richtung Stadt, wie immer, sagt Mohammed. Mühsam bewegt er seinen verletzten linken Arm über den Tisch und zeigt auf der Landkarte den Punkt, an dem die Geschichte begann. Von 10 bis 14 Uhr sollte die tägliche Feuerpause dauern, festgelegt von der israelischen Armee, damit Zivilisten sich bewegen konnten, zum Beispiel etwas einkaufen. Dass Einheiten der israelischen Armee in der Nähe waren, wusste Mohammed Shurab. Er hatte Panzer vorbeifahren sehen. Von der Terrasse seines Landhauses hatte er einen Überblick. »Ich konnte die Bombardierungen sehen«, sagt er und malt einen Halbkreis auf seinem Lageplan, »in Rafah…«, er malt einen Punkt im Süden, für die Grenzstadt, »…in Gaza«, er malt einen weiteren Punkt für Gaza-Stadt ans andere Ende. »Ich konnte alles sehen.«

Mohammed Shurab beschreibt den Krieg wie jemand, der sich in Sicherheit wähnte, auf einem entlegenen Außenposten, den die Gewalt nicht treffen konnte. All die Jahre hatten die Israelis um sein Haus gewusst, und nie hatten sie etwas zu beanstanden. Warum sollte er irgendetwas anders machen als an all den anderen Freitagen? Warum den Israelis nicht trauen? Sie hatten diese Waffenruhe versprochen, und Mohammed Shurab war ohne Furcht.

Den Zeitpunkt, an dem er aufbrach, wählte er mit Bedacht. 12 Uhr, das sollte die besonders sichere Mitte der Waffenruhe sein. Normalerweise, erzählt Mohammed, fuhr er diese Strecke allein. Es war ein Zufall, dass ihn an diesem Tag seine beiden Söhne begleiteten. Der Fernseher in seinem Haus auf dem Land war ausgefallen. »Kassab wollte ihn reparieren.« Kassab, der ältere Bruder, hatte einen Abschluss in Architektur an der Universität in Gaza. Ibrahim, der jüngere, begleitete ihn. Am Mittwoch, dem 14. Januar, hatten die beiden den Vater besucht, die Satellitenschüssel gerichtet und danach zusammen ferngesehen. Als sie am Freitag ins Auto stiegen, um in die Stadt zurückzukehren, saß der Vater auf dem Fahrersitz, neben ihm Kassab, Ibrahim dahinter.

Es gibt einen Zeugen für den Zeitpunkt, an dem der Vater mit seinen Söhnen das Haus verließ: Der 39 Jahre alte Amer Amira al Amour bestätigt die Uhrzeit. »Ich konnte Mohammeds roten Jeep sehen, wie er langsam den Weg entlangfuhr.« Als Amer das sagt, steht er auf dem Dach seines Hauses, das zwischen Mohammed Shurabs Landsitz und der Hauptstraße liegt, hier war er auch am 16. Januar. Amer trägt ein Sweatshirt mit dem Schriftzug Israel Airport Authority, es ist ein wenig ausgewaschen. Schon lange ist es her, dass jemand wie Amer, ein Beduine aus Gaza, in Israel arbeiten durfte. Er sagt: »Mohammeds roter Jeep fuhr so langsam, dass selbst ein Esel ihn hätte überholen können.«

Die ersten Schüsse fielen um kurz nach zwölf. Sie trafen den Vater

Mohammed Shurab nahm die gewohnte Strecke, am Ende der Kakteenallee bog er auf die Hauptstraße. »Es war ein klarer Tag«, erzählt er, »es war sonnig.« Das ist ihm wichtig. Er wäre nicht gefahren, wenn es neblig gewesen wäre. »Im Dorf al Foukhary wurde nicht gekämpft. Alles war ruhig.« Mohammed Shurab fuhr langsam, der Kreisel am Salim Platz war nur noch wenige Hundert Meter entfernt. Links vor ihm, neben der Straße, die nach Westen führt, sah er zwei israelische Panzer. »Ich habe gestoppt«, sagt er, »und ich habe gewinkt.« Er winkt jetzt noch einmal, ganz so, als müsse er für jedes Detail einen Beweis vorlegen. Wie oft hat er diese Szene in seiner Fantasie noch einmal durchgespielt? Wenn diese Straßenkreuzung das Leben seiner Söhne zerstörte, hätte er dann nicht etwas bemerken müssen? »Es war alles in Ordnung«, sagt er, die Soldaten auf dem Panzer konnten ihn sehen, ihn und seine beiden unbewaffneten Söhne.

Sie hätten ihn warnen können, ihn aufhalten können, ihn zwingen, die andere Abzweigung zu nehmen, den Weg nach Norden. Aber die Soldaten auf dem Panzer regten sich nicht. So fuhr Mohammed Shurab weiter, langsam, geradeaus, ließ die Panzer hinter sich. Er schaffte noch zweihundertfünfzig Meter, ungefähr. Dann brach es los. »Auf einmal wurden wir beschossen, aus diesem Haus in vierzig Meter Entfernung«, sagt er, »sie haben uns nicht gewarnt.« Eine der ersten Kugeln traf Mohammed Shurab im linken Oberarm. »Ich habe zu den Jungen geschrien: Runter!« Das Gewehrfeuer wollte nicht aufhören. Mohammed Shurab konnte den Wagen nicht mehr kontrollieren. Er prallte gegen eine Mauer am Straßenrand.

Der Landrover ist ein stummer Zeuge. Der Wagen steht in der Werkstatt von Bilal el Khady in der Stadt Khan Younis. Der Mechaniker zeigt die Munitionssplitter, die er aus dem durchlöcherten Auto mit dem Nummernschild 3-3776-93 geklaubt hat: aus dem Motor, dem Dach, den Türen, der Rückbank. Zweiundzwanzig Einschusslöcher allein in der Windschutzscheibe, die meisten auf der Fahrerseite, in Kopfhöhe.

Mohammed Shurab liebte seine Söhne. Wenn er von ihnen erzählt, funkeln seine Augen. Er erhebt sich und steigt die Treppe hinunter ins Erdgeschoss, die Ablenkung scheint ihm gutzutun. Er möchte etwas zeigen, geht ins Wohnzimmer und holt hinter einer Tür die Zeichnungen von Kassab hervor: Pläne des jungen Architekten, Entwürfe von Häusern und Landschaften, Utopien eines neuen Gaza-Streifens, eines Landes ohne Krieg. Mohammed Shurab zeigt ein Foto seines Sohnes Ibrahim, der sich erst wenige Monate zuvor an der Universität eingeschrieben hatte, er wollte Wirtschaft studieren wie sein Vater.

»Als wir auf dem Boden lagen«, sagt er, »haben sie weiter geschossen. Tiefer.« Im Auto konnten sie nicht bleiben. Sie mussten aussteigen. Langsam. Mussten deutlich machen, dass keine Gefahr von ihnen ausging. »Kassab stieg als Erster aus«, sagt der Vater, »er öffnete die Autotür und stand aufrecht, ganz ohne Angst. Er wurde sofort erschossen.«

Mit seiner Hand markiert Mohammed Shurab eine schräge Linie vor seinem eigenen Oberkörper, um die sieben Kugeln zu beschreiben, die seinem Sohn quer in der Brust einschlugen. »Kassab ging noch ein paar Schritte. Dann wurde er wieder getroffen und fiel zu Boden.« Der Vater schweigt einen Moment, dann fügt er hinzu: »Er hat sich nicht mehr gerührt.«

Wo war der Fehler, der erklären könnte, weshalb sein Sohn getötet wurde? Jede Frage, die Mohammed Shurab seither an sich richtet, zieht eine weitere nach sich, weil er keine Antwort findet. Warum wurde während der Feuerpause geschossen? Warum am helllichten Tag? Warum auf einer übersichtlichen Straße in einem winzigen Dorf? Wieso hatte niemand gesehen, dass der Junge unbewaffnet war? Dass er aufrecht stand, aufrecht, wie das nur der Sohn eines Palästinensers konnte, der israelischen Soldaten vertraute?

»Dann ist auch Ibrahim ausgestiegen«, sagt Mohammed Shurab, auch sein anderer Sohn verließ das Auto, »die rechte hintere Tür ließ er offen. Sie haben auf ihn geschossen.« Ibrahim stürzte zu Boden und versuchte noch, Mohammed zu beruhigen. Ibrahim habe gesagt: »Keine Sorge, Vater, es ist nicht so schlimm. Sie haben mich am Bein getroffen, unterhalb des Knies.« So erinnert sich der Vater. Er sitzt über den Tisch gebeugt, sagt bloß noch diesen Satz: »Das warme Blut lief über meinen Arm die Finger herunter. Mein einer Sohn war tot und mein anderer verwundet.«

Captain Benjamin Rutland, ein Sprecher der israelischen Armee, kann sich zu der Geschichte von Mohammed Shurab nicht äußern. »Wir unterziehen gerade das allgemeine Auftreten der Israel Defense Forces während der Gaza-Offensive und einige Einzelfälle einer extensiven Überprüfung«, erklärt Rutland. Die Frage, warum auf Mohammed Shurab geschossen wurde, darf Rutland nicht beantworten, solange die Ermittlungen laufen. Auch die Frage, warum die Waffenpause an jenem Freitag, dem 16. Januar, im Dorf al Foukhary nicht eingehalten wurde, lässt er offen. Vielleicht gibt es Erklärungen für die Schüsse auf das Auto von Mohammed Shurab, vielleicht gibt es Gründe für den Tod von Kassab Shurab, vielleicht kennt sie Captain Rutland, aber er schweigt. Daraus lässt sich nichts folgern. Keine Absicht. Keine Motive. Keine Schuld.

Für die Perspektive der israelischen Soldaten im Dorf al Foukhary gibt es einen einzigen Zeugen, einen Palästinenser, der zweisprachig ist. Er wohnt nicht in dem Gebäude, aus dem heraus geschossen wurde, sondern nebenan. Etwas linkisch sitzt er auf seinem Stuhl. Er fühlt sich unwohl bei der Erinnerung an den 16. Januar. Es ist seine eigene Rolle, die ihm nicht behagt. Er hat sie sich nicht ausgesucht. Etwas zu wissen, was gegen die israelische Armee verwendet werden könnte, macht ihm Angst. Etwas preiszugeben, was die Israelis wiederum gegen ihn verwenden könnten, macht ihm noch mehr Angst.

Am Donnerstag, dem 15. Januar, so beginnt die Geschichte des Nachbarn, seien israelische Soldaten bei ihm zu Hause aufgetaucht. Sie hätten durch die Tür seines Hauses geschossen und ihn am Arm verwundet. Tatsächlich klafft im rechten Ärmel seiner Jacke ein Loch. Er sei als Geisel genommen worden, zwei Tage lang mussten er und neun andere Menschen in einem Zimmer im Erdgeschoss ausharren. Die Tür sei offen geblieben, erzählt der Nachbar, auf einem Stuhl habe ein israelischer Soldat gesessen, mit einem Gewehr auf dem Schoß, um die Geiseln zu bewachen. Seine Wunde am Arm hätten die israelischen Soldaten verarztet.

Der Nachbar sagt, sein Hebräisch sei gut genug gewesen, um mit den Soldaten ins Gespräch zu kommen. Gut genug, um zu verabreden, wer auf die Toilette gehen durfte oder in die Küche. Zu essen habe es nichts gegeben, jedoch zu trinken. Sein Hebräisch, sagt der Nachbar, habe auch gereicht, um den Funkverkehr der Soldaten zu verstehen. Der Funker habe draußen direkt vor dem offenen Fenster gestanden. Zwar habe er ihn nicht sehen können, aber er habe die Stimmen verschiedener Soldaten, die über Funk mit dem Kommandeur sprachen, deutlich gehört. In dem Gespräch, das am Freitagmittag stattfand, habe eine Stimme gesagt: »Da kommt ein Wagen. Was sollen wir tun?« Eine andere Stimme habe geantwortet: »Schießen!«

Ob er sich sicher sei? Ja. Keine Warnung? Keine Warnung. Danach, sagt der Nachbar, habe sich die erste Stimme wieder gemeldet: »Schon erledigt.« Dass die Worte »schon erledigt« Mohammed Shurab galten, habe er nicht geahnt.

Captain Rutland kann sich zu den Ereignissen vom 16. Januar nicht äußern. Was immer es an entlastenden Erklärungen geben könnte, an Gründen für die Schüsse auf Mohammed Shurab und seine Söhne, er kann nicht darüber sprechen, bis die internen Ermittlungen der Armee abgeschlossen sind. Vielleicht hatten die Soldaten auf Befehl gehandelt, wie es der ängstliche Nachbar erzählt. Vielleicht auch nicht. Vielleicht waren es junge Soldaten, die das Auto auf sich zufahren sahen. Vielleicht waren sie unerfahren und schossen deshalb. Vielleicht waren es ältere Soldaten. Vielleicht waren sie erfahren und schossen deshalb. Vielleicht war es ein Fehler, begangen aus Müdigkeit oder Angst. Vielleicht hatte die palästinensische Organisation Hamas an diesem Tag an einem anderen Ort den Waffenstillstand gebrochen. Vielleicht waren die Soldaten angegriffen worden. Vielleicht hatten sie Freunde verloren.

Damit wäre vielleicht der erste Beschuss zu erklären, die Kugel, die Mohammeds linken Arm traf. Vielleicht war es ein weiterer Irrtum, Kassab zu erschießen, den Sohn, der aufrecht aus dem Auto gestiegen war. Und vielleicht lässt sich so erklären, warum der zweite Sohn, Ibrahim, am Bein getroffen wurde.

Um 13.30 Uhr rief der Onkel einen Rettungswagen – und wurde vertröstet

Aber die Geschichte hat noch einen zweiten Teil. Noch lag der Vater an jenem Freitagmittag mit seinem verwundeten Sohn Ibrahim auf der Straße, etwa vierzig Meter vom Gebäude mit den Soldaten entfernt. »Das waren ja Menschen, die Israelis«, sagt Mohammed Shurab, er spricht immer von »Israelis«. Kein einziges Mal bei all den Begegnungen, in den Gesprächen, die sich über Stunden ziehen, nie verwendet er das Wort »Juden«. Die Israelis, sagt er, die waren ja nah, er konnte sie sehen.

»Ibrahim hat gefleht, er brauche Hilfe«, erzählt Mohammed Shurab, »aber die Soldaten haben ihn angeschrien: Hör auf zu weinen, sonst erschießen wir dich.« Ibrahim versuchte, mit seinem Handy einen Krankenwagen zu rufen, 1–0–1, aber, so erinnert sich der Vater, ein Soldat habe gebrüllt: »Wenn du das Handy benutzt, erschießen wir dich.« Eine halbe Stunde vielleicht lagen sie auf der Straße, wenige Meter voneinander entfernt. Gegen 13 Uhr klingelte plötzlich Ibrahims Handy. Obwohl es ihm verboten war, nahm der verwundete Junge den Anruf an: Sein Onkel Ibrahim, Mohammeds Bruder, erkundigte sich ahnungslos, wann sie zu Hause einträfen.

Ibrahim, der den Erinnerungen seines Bruders Mohammed wortlos zugehört hat, erzählt jetzt, da er selbst zum Zeugen der Geschehnisse wird, seinen Teil der Geschichte. Es war ungefähr 13.30 Uhr an diesem 16. Januar, als er zu versuchen begann, seinen Bruder Mohammed und dessen Sohn zu retten. Er alarmierte die Notrufstelle der Ambulanz in der Stadt Khan Younis und die Rettungsdienste des Roten Halbmonds. Er hielt es zu Hause nicht mehr aus, sondern machte sich sofort auf den Weg zu dem Parkplatz, wo die Krankenwagen standen. Er wollte dabei sein, wenn die Ambulanz losfuhr. Er würde nicht lange warten müssen, habe er gedacht, der Rote Halbmond ist eine der Partnerorganisationen des Internationalen Roten Kreuzes und hat damit die besten Kontakte, um bei den Israelis eine Genehmigung für die Evakuierung von Verwundeten zu bekommen.

Anne Sophie Bonefeld vom Internationalen Roten Kreuz in Jerusalem kann zu konkreten Fällen nichts sagen. Das ist die offizielle Politik ihrer Organisation, Bonefeld ist die Medienbeauftragte. Wann das Rote Kreuz den Notruf zur Evakuierung von Mohammed und Ibrahim Shurab erhalten hat? Kann sie nicht sagen. Bonefeld erklärt die normale Prozedur während eines Krieges, der kaum normale Prozeduren zuließ. Sie sagt: »Üblicherweise erhielten wir Anrufe wegen ganz unterschiedlicher Notlagen: Familien wollten aus Gegenden evakuiert werden und brauchten sicheres Geleit. Oder es gab Notrufe, um Verwundete zu retten.« Der Rote Halbmond rief beim Internationalen Roten Kreuz an und bat um Schutz, und das Rote Kreuz setzte sich mit den israelischen Behörden in Verbindung, um eine Genehmigung zu bekommen. Bonefeld sagt: »Alles, was wir dann tun konnten, war, auf grünes Licht zu warten.« Wie lange konnte das dauern? »Manchmal Stunden. Manchmal Tage.«

Um 14 Uhr begann der Vater zu beten. Sein Sohn hörte nicht auf zu bluten

Mohammed Shurab, der mit seinem verwundeten Sohn auf der Straße lag, ahnte nichts von diesen Verwicklungen. Er wusste nur, dass sein Sohn Hilfe brauchte. Er habe auf Hebräisch gerufen: »Bitte, Soldat, ruf einen Krankenwagen.« Er schaut ins Leere, noch immer erzählt er die Geschichte fragend, als ob er in der Wiederholung irgendwann eine Erklärung entdecken könnte. Konnte es wahr sein, dass diese Menschen das Leid nicht sahen? Denn Menschen, das waren sie doch, diese Soldaten, die da am eisernen Tor vor dem zweistöckigen Gebäude standen. Gegen 14 Uhr begann Mohammed Shurab zu beten. Sein Sohn war inzwischen näher an ihn herangerobbt. Er lag zwischen seinen Beinen. »Vater, bitte«, habe Ibrahim gesagt, »ruf Hilfe.« Wieder und wieder habe der Junge diesen Satz gesagt, erinnert sich der Vater.

»Die erste Stimme hat dann noch mal nachgefragt«, sagt der Zeuge im Nachbarhaus: »Sollen wir helfen?« Die Antwort sei »Nein« gewesen, »die sollen sich selbst helfen«. Wie viel Zeit zwischen den Schüssen und dieser Frage vergangen sei? »Nicht viel.«

»Für diese Offensive wurde extra ein humanitäres Koordinierungsbüro eingerichtet«, sagt Captain Rutland von der israelischen Armee. »Natürlich waren wir generell immer darum bemüht, den Ambulanzwagen Zugang zu den Gegenden zu verschaffen, an denen jemand gerettet werden musste. Aber wenn es Kämpfe in der Gegend gab, dann konnten wir diesen Zugang nicht autorisieren.«

Waren nicht auch die Soldaten dazu verpflichtet, Verletzten zu helfen, unabhängig vom Roten Kreuz? »Doch. Unsere Soldaten und Sanitäter sind selbstverständlich so ausgebildet, dass sie Verwundete bergen und verarzten. Aber wenn es Gefechte gibt, ist es ihre oberste Pflicht, sich selbst zu verteidigen.« Ob es am Freitag, dem 16. Januar, Gefechte in der Umgebung des Dorfes al Foukhary gab, darf Captain Rutland nicht sagen.

Von Kämpfen an jenem Tag weiß niemand im Dorf. Nicht Mohammed Shurab. Nicht Ibrahim, sein Bruder. Nicht Amer Amira al Amour, der erste Zeuge. Der Osten, die Gegend von Khouza, sei ein umkämpftes Gebiet gewesen, aber im Dorf al Foukhary sei es ruhig geblieben. Unabhängig verifizieren lässt sich das nicht. Auch das Internationale Rote Kreuz kann sich dazu nicht äußern.

Um 14.30 Uhr hatte Ibrahim, der Onkel des verletzten Jungen, noch immer keine Bestätigung des Roten Kreuzes, dass ein Rettungswagen losfahren werde. Eine Stunde war seit dem ersten Notruf vergangen. Auf eigene Faust, mit einem örtlichen Ambulanzfahrer, versuchte Ibrahim nun, seinen Bruder und seinen Neffen zu evakuieren. Sie kamen bis ans Rondell, wenige hundert Meter von Mohammed und Ibrahim entfernt. Die Panzer waren noch immer da. Nur noch einmal abbiegen, und der Ambulanzwagen wäre am Ziel gewesen. Weil der Fahrer aber keine Erlaubnis erhielt, wagte er es nicht, sich den Verwundeten zu nähern. Im Krieg ist auch ein Rettungswagen keine Garantie, nicht beschossen zu werden.

Anne Sophie Bonefeld vom Internationalen Roten Kreuz sagt, Furcht sei da verständlich. »Viele der Fahrer vom Roten Halbmond haben bei ihrer Arbeit ihr Leben riskiert.« Immer wieder mussten Rettungsversuche abgebrochen werden, weil plötzlich geschossen wurde. Ohne Genehmigung der israelischen Behörden konnte es kein Sanitäter wagen, einem Menschen in Not zu helfen.

Warum die Genehmigung auf sich warten ließ, kann niemand sagen. Jede halbe Stunde, erzählt Ibrahim, der Onkel, habe er beim Roten Halbmond angerufen. Jede halbe Stunde wurde ihm gesagt, es werde daran gearbeitet. Gegen 17 Uhr erhielt der Onkel die Auskunft, dass er auf einen Rettungswagen nicht mehr hoffen könne. Die Genehmigung war noch immer nicht erteilt, und der Rote Halbmond rechnete nicht mehr damit, dass sie nun, nach Einbruch der Dunkelheit, noch komme.

Ibrahim rief seinen Bruder Mohammed an und sagte, dass er nichts mehr tun könne. Mohammed sei nun auf sich allein gestellt, allein mit den israelischen Soldaten. »Es waren ungefähr vier«, erinnert sich Mohammed Shurab, »die standen am Gartentor.« Sein Sohn war noch ansprechbar. Als es dunkel war und die Kälte hereinbrach, zog der Vater den Jungen in den Wagen, um ihn zu wärmen. Er musterte die Soldaten vor dem Haus. Was taten sie die ganze Zeit?

Aus einem Loch in der Wand im ersten Stock des Hauses kann man die kleine Straße gut überblicken. Das Loch wurde auf der Höhe des Fußbodens von innen in die Mauer geschlagen, sodass man im Liegen auf die Straße schießen kann. Auf dem Boden vor dem Loch liegen noch immer Zigarettenstummel im Sand, die Reste von Zigaretten der Marken Kent und Next.

Die Besitzer des Hauses rauchten nicht. Sie waren vor dem 16. Januar geflohen. Ob von hier aus geschossen wurde, vom improvisierten Schießschacht, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Oben auf der Dachterrasse wurde ein weiteres Loch in die Mauer geschlagen, etwas größer. Davor liegen grüne, mit Sand gefüllte Plastiksäcke. Mit Sicherheit lässt sich nur sagen, dass die Sicht von hier aus ungehindert war. Dass man von hier erkennen konnte, ob der Mann mit dem blutenden Sohn im Arm bewaffnet war oder nicht.

Vielleicht haben sich die Soldaten einfach gelangweilt. Warum sonst sollten sie das Büro mit all den Büchern im ersten Stock verwüstet haben? Warum sonst sollten sie die Krawatten im Kleiderschrank des Schlafzimmers abgeschnitten haben? Die halbierten Schlipse hängen noch immer aufgereiht im Schrank. Und warum sonst sollten sie die Graffiti an der weißen Wand neben der Küche hinterlassen haben? »Kahane hatte recht« steht da auf Hebräisch, in Erinnerung an den Rabbi Meir Kahane, der von einem Groß-Israel träumte und der jeden Araber dazu zwingen wollte, sein Land aufzugeben.

Am Abend telefonierte der Vater mit der BBC, danach starb sein Sohn

Es war kurz nach 17 Uhr an jenem Freitag, dem 16. Januar. Ibrahim, der Onkel, wartete mit den Fahrern im Aufenthaltsraum des Krankenhauses, als einer der Sanitäter auf eine Idee kam. »Er schlug mir vor«, sagt der Onkel, »Mohammeds Handynummer an die Medien zu geben, damit die vielleicht etwas ausrichten konnten.« Von nun an ging Mohammed Shurab ans Telefon, wann immer es klingelte. »Es war mir egal, ob die israelischen Soldaten mich erschießen würden«, sagt er. Mohammed Shurab sprach in diesen Stunden mit Reportern von Al Jazeera, Al Arabia, BBC. Er kann sie gar nicht mehr alle aufzählen, so viele Journalisten meldeten sich bei ihm. Jedem Anrufer berichtete der Vater, was vorgefallen war und wo er lag und dass sein Sohn Ibrahim noch immer blutete. Stunde um Stunde verging, die Nacht kroch ins Dorf, und fremde Menschen wurden Ohrenzeugen eines unfassbaren Schicksals in einem palästinensischen Irgendwo.

»Es wurde kälter«, sagt Mohammed Shurab, »ich habe Ibrahim den Rücken gerieben, um ihn warm zu halten.« Er führt es noch einmal vor, wieder und wieder dieselbe Handbewegung. »Ich habe gesagt: Bitte, Soldat, gib uns eine Decke. Wenigstens eine Decke. Die Nacht ist so kalt.« Ibrahim, der Sohn, wurde stiller. Ibrahim habe nicht mehr viel gesprochen, nur gefragt: »Warst du zufrieden mit mir, Vater?« Immer wieder habe der Vater zurückgefragt: »Bist du noch bei Bewusstsein, Junge?«

Gegen Mitternacht, erinnert sich der Vater, habe sein Sohn so still dagelegen, dass nichts mehr von ihm zu hören war, nicht einmal Atemgeräusche. »Ich habe ihm die Stirn gefühlt«, sagt Mohammed Shurab, »sie war noch warm. Ich habe den Puls gefühlt. Aber er war fort.«

Einen halben Tag lang hatte Mohammed Shurab mit seinem Sohn auf der Straße gelegen, dann war Ibrahim verblutet. Ein halber Tag, an dem niemand zu Hilfe kam. Vielleicht gab es Gründe, gute oder schlechte, für den Beschuss des Wagens. Vielleicht gab es Gründe, gute oder schlechte, für die Schüsse auf Kassab, für die Schüsse auf Ibrahim. Es mag Absicht gewesen sein oder ein Irrtum. Es war Krieg in Gaza. Und im Krieg wird gestorben. Aber zu jeder Stunde nach dem Beschuss hätte Ibrahim Shurab gerettet werden können.

Irgendwann in jener Nacht, erinnert sich Mohammed Shurab, kamen die Soldaten aus dem Haus und zogen an ihm vorbei. Zweimal, sagt Mohammed, seien sie in Marschordnung an ihm vorübergezogen, als gehörten er und seine toten Söhne zur Kulisse. »Sie hatten zwei Sanitäter«, sagt Mohammed Shurab.

»Ich war verzweifelt«, sagt er, »als irgendwann Tom anrief.« An die genaue Uhrzeit erinnert er sich nicht. »Es war spät.«

Der 32-jährige Tom Mehager von der Organisation Physicians for Human Rights erinnert sich. Es war 1 Uhr in der Nacht, als er durch den Anruf einer Freundin aus Gaza von Mohammed Shurab erfuhr. Tom Mehager wählte sofort die Nummer, die er erhalten hatte, und Mohammed Shurab meldete sich, aber da war sein Sohn schon nicht mehr am Leben. »Wir haben die ganze Nacht gesprochen«, erinnert sich Tom Mehager in seinem Büro in Tel Aviv. Helfen konnte er nicht mehr, nur trösten. »Wir haben geredet und geweint.« Immer wieder legte er auf und rief Mohammed aufs Neue an. In den Gesprächspausen versuchte er, die israelische Koordinierungsstelle für Rettungseinsätze zu erreichen. »Mein Ansprechpartner dort war ein Barak. Wieder und wieder habe ich ihm erklärt, dass da noch immer ein verwundeter Mann liegt, Mohammed, der friert und blutet. Und dass sie einen Rettungswagen schicken müssen. Barak behauptete, es gebe Probleme mit dem sicheren Zugang.« Tom Mehager schüttelt den Kopf. »Ich konnte doch bei jedem Telefonat mit Mohammed die Stille der Nacht um ihn hören.«

Am nächsten Mittag kam ein Rettungswagen und barg die Toten

Wenn Mohammed Shurab von dieser Nacht erzählt, von den Stunden, in denen Ibrahim tot in seinen Armen lag, dann erzählt er vor allem von Tom, diesem jungen Israeli aus Tel Aviv, dem liebevollen Zuhörer von der anderen Seite, dem Menschen, der dieselbe Staatsangehörigkeit besitzt wie die Soldaten, die seine Söhne töteten. Und nichts daran kommt Mohammed Shurab sonderbar vor. Diese Menschlichkeit, das ist es, was er erwartet von seinen Nachbarn. Das ist es, was er ihnen zutraut, Israelis wie Palästinensern. Wie wäre der Tag verlaufen, wenn Mohammed Shurab dieses Vertrauen nicht gehabt hätte? Oder wenn die Soldaten auf der anderen Seite ebendieses Vertrauen gehabt hätten? Ob dann alles anders ausgegangen wäre?

Mohammed Shurab und Tom Mehager sprachen miteinander bis halb acht am Morgen. Es war schon wieder hell, als sie sich voneinander verabschiedeten. Der Akku in Mohammed Shurabs Handy war leer. Es vergingen noch einmal fünf Stunden, bis ein Rettungswagen kam. Es war Samstag, der 17. Januar 2009, es war Mittag, 12.30 Uhr, als Mohammed Shurab mit den Leichen seiner beiden Söhne zum European Hospital nach Khan Younis gebracht wurde. Einen Tag lang hatte er auf Hilfe gewartet.

Der Krankenwagen bog am Rondell links ab. An der Kreuzung, vor der Mohammed Shurab am Tag zuvor mit seinem roten Jeep gestanden hatte, nahm der Fahrer die Straße nach Norden. Da lag auch gleich das Krankenhaus. Die Fahrt dauerte vier Minuten.


Keine Kommentare: