| ISRAELS MASSENVERNICHTUNGSWAFFEN (II)Seit 1967 wurden in den Kriegen und Konflikten mit der arabischen Umgebung mehrfach Nuklearschläge in Erwägung gezogen Israel hat ein umfangreiches Atomwaffenpotenzial zu seiner Verfügung und ist zur fünft stärksten Nuklearmacht der Welt aufgestiegen, schrieb Jürgen Rose in seinem ersten Artikel (Freitag 26/2004) über das größte nationale Arsenal an Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten. Er verwies auf den Bestand von heute 400 bis 500 Atomsprengköpfen, die strategische Triade (land-, luft- und seegestützt) bei den Trägersystemen sowie die Fähigkeit zum Bau von Interkontinentalraketen. Im zweiten Teil seiner Analyse beschäftigt sich der Autor mit der Einsatzstrategie für dieses Potenzial.
Parallel zum Aufbau eines Arsenals an Kernwaffen gab es für die israelische Armee über Jahrzehnte hinweg gleichfalls eine Evolution der Einsatzstrategie. Ausgangspunkt aller Optionen war die Überzeugung, nur auf diese Weise würde es möglich sein, einer mutmaßlichen arabischen Bedrohung eine ultimative Abschreckungsmacht entgegenzusetzen. Nuklearwaffen sollten als ultima ratio sicherstellen, dass es nie wieder zu einem Massaker am jüdischen Volk kommen würde. Als symbolische Metapher hierfür diente die sogenannte "Samson-Option", die sich eines biblischen Mythos bediente. Demzufolge wurde Samson - gefangen nach blutigem Kampf - von den Philistern geblendet und in Dagons Tempel in Gaza öffentlich zur Schau gestellt. Dem Tode nahe bat der Gemarterte seinen Gott, ihm ein letztes Mal Kraft zu geben, und rief: "Ich will sterben mit den Philistern!" Danach konnte Samson die Säulen des Tempels beiseite schieben, woraufhin das Dach einstürzte und alle unter sich begrub. Bezogen auf diesen Mythos des Widerstehens und der Unbesiegbarkeit erhielten Israels Atomraketen den Decknamen "Tempelwaffen".
Gegen Syrien und Ägypten
Während der vergangen Jahrzehnte gab es vier Situationen, in denen ein Einsatz von Kernwaffen durch die israelische Armee ernsthaft erwogen wurde. Erstmals während des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967, als Atombomben für den Fall in Reserve gehalten wurden, dass ein Erfolg des konventionell geführten Präventivkrieges gegen Ägypten, Jordanien und Syrien ausbleiben sollte.
Während des Oktoberkrieges 1973 wurde ein Schlag mit Nuklearwaffen nicht nur in Betracht gezogen, sondern am 8. Oktober 1973 bereits der Befehl erteilt, 13 Kernwaffen für einen Angriff auf die militärischen Hauptquartiere in Kairo und Damaskus vorzubereiten, nachdem Verteidigungsminister Moshe Dayan einen Zusammenbruch der israelischen Defensivoperationen im damaligen Zweifrontenkrieg prophezeit hatte. Mit dieser nuklearen Mobilmachung gelang es der Regierung unter Premierministerin Golda Meir, die USA erheblich unter Druck zu setzen und massive Nachschublieferungen an Munition und Rüstungsmaterial zu erzwingen. Gleichzeitig schienen die Oberkommandierenden in Ägypten und Syrien von dem drohenden Enthauptungsschlag derart beeindruckt, dass sie ihre Panzerverbände nicht weiter vorrücken ließen. Nachdem Israel daraufhin am 14. Oktober 1973 den atomaren Gefechtsalarm zunächst aufgehoben hatte, wurde er wenige Tage später erneut ausgelöst, nachdem die US-Regierung ihrerseits das Strategische Bomberkommando alarmierte. Die Sowjetunion sollte von einem möglichen Eingreifen zugunsten Syriens und Ägyptens abgehalten werden. Die Lage entspannte sich erst, als ein Waffenstillstand sämtliche Kampfhandlungen beendete.
Ein weiteres Mal war die atomare Option Teil des militärischen Kalküls, als 1982 bei der Invasion im Libanon ("Operation Oranim") der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon mit dem Gedanken spielte, Syrien mit Kernwaffen anzugreifen. Schließlich kündigte Israels Regierung während des Golfkrieges von 1991 für den Fall eines irakischen Angriffs mit chemischen oder biologischen Waffen einen nuklearen Gegenschlag an.
Wie die Beispiele zeigen, ist das israelische Kernwaffenpotenzial vollends in eine militärische wie auch politische Strategie integriert, die unter der Bezeichnung Nonconventional Compellence (nicht-konventioneller Druck) praktiziert wird. Ex-Premier Shimon Peres - einer der Protagonisten einer Aufrüstung mit Massenvernichtungswaffen - charakterisierte das dem zugrunde liegende strategische Motiv mit den Worten: "Ein überlegenes Waffensystem zu haben, schafft die Möglichkeit, es für die Ausübung von Druck zu nutzen. Das heißt, die andere Seite zu zwingen, Israels Forderungen zu akzeptieren, was wahrscheinlich dazu führt, dass der traditionelle Status quo hingenommen und ein Friedensvertrag unterzeichnet wird."
Darüber hinaus garantiert das israelische Nuklearpotenzial den uneingeschränkten Beistand des amerikanischen Alliierten und verhindert eine unerwünschte Parteinahme Europas zugunsten der arabisch-palästinensischen Position - getreu der Maxime: "Wenn ihr uns in einer kritischen Situation nicht helfen wollt, werden wir euch veranlassen, uns zu helfen, oder uns gezwungen sehen, unser Potenzial einzusetzen."
Selbst auf Rom
Aufschlussreich sind in diesem Kontext die Aussagen des israelisch-niederländischen Militärhistorikers Martin van Creveld, eines international bekannten Professors für Militärgeschichte an der Hebräischen Universität von Jerusalem, aus dem vergangenen Jahr. Van Creveld bemerkte in einem Interview mit dem niederländischen Magazin ELSEVIER zu den Plänen der Likud- Regierung, eine unüberwindliche Mauer zwischen Israel und dem Westjordanland zu errichten, Sharon verfolge in letzter Konsequenz das Ziel, alle Palästinenser aus der dann errichteten "Festung Israel" deportieren zu können. Auf die Frage, ob die Welt eine derartige ethnische Säuberung zulassen würde, meinte van Creveld: "Das liegt daran, wer es tut und wie schnell es geht. Wir haben einige Hunderte von Atomsprengkörpern und Raketen und können sie auf Ziele überall werfen, selbst auf Rom. Bei einem Einsatz von Flugzeugen sind die meisten europäischen Hauptstädte ein Ziel."
Die Auffassung mag extrem erscheinen, aber da sich die israelische Gesellschaft offenkundig polarisiert, wird der Einfluss der radikalen Rechten stärker. Es ist keineswegs auszuschließen, dass Gush Emunim, einige säkulare rechte Fanatiker oder zu allem entschlossene Generäle die Kontrolle über die israelischen Nuklearwaffen übernehmen.
Europa sollte sich insofern angesichts einer brisanten Zuspitzung des Palästina-Konfliktes weniger über die Bedrohung durch nicht vorhandene oder allenfalls begrenzt einsatzfähige Massenvernichtungswaffen in der islamischen Welt Sorgen machen. Es sollte sich viel mehr mit dem jederzeit einsetzbaren Massenvernichtungspotenzial eines Staates beschäftigen, der in wenigen Jahrzehnten der Weltgemeinschaft permanent bewiesen hat, dass ihm Völkerrecht und Menschenrecht gleichgültig sein können.
Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen. |
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