Montag, 12. Januar 2009

Verrohung...

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Der Preis der Gewalt

Israels Gesellschaft droht im Krieg zu verrohen

Von Michael Borgstede 12. Januar 2009, 18:43 Uhr

Der Krieg schweißt die Nation zusammen: Mit überwältigender Mehrheit unterstützen die Israelis die Gaza-Offensive. Und das trotz alltäglicher Gewalt, traumatisierter Soldaten und vieler Todesopfer. Viele Israelis haben ihren moralischen Kompass und ihre Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, verloren.





AnatK. schläft schlecht in diesen Tagen. Bis drei, vier Uhr nachts sitzt sie vor dem Fernseher. Wenn sie mit dem Morgengrauen dann ins Bett geht, wollen ihr die Augen nicht zufallen. Sie sorgt sich um die Soldaten im Gazastreifen, fürchtet die Raketen, die täglich aus Gaza nach Israel abgefeuert werden, und hat wohl nicht zuletzt Angst, die Situation könnte ausgerechnet in einer ihrer Tiefschlafphasen außer Kontrolle geraten. Dabei lebt AnatK. nicht in Sderot oder Aschkelon, ihre hübsche Drei-Zimmer-Wohnung liegt in Tel Aviv, in einer der schönsten, grünsten und ruhigsten Straßen der Stadt. Wenn man wollte, könnte man den Krieg, der 70 Kilometer südlich tobt, hier einfach vergessen. Aber AnatK. will das nicht.

Seit zwei Wochen läuft ihr Fernseher praktisch 24 Stunden am Tag, sie liest alle Tageszeitungen, sucht immer auf mehreren Online-Portalen gleichzeitig nach den neuesten Nachrichten. „Das bin ich unseren Jungs schuldig“, sagt sie. Und vielleicht glaubt sie wirklich, dass allein ihre Anwesenheit vor dem Fernseher die Kampfesmoral der Soldaten stärkt. Jedenfalls ist die passive Teilnahme an den Kampfhandlungen für sie offensichtliche Pflichterfüllung als gute Bürgerin ihres Staates.


Das ist auch eine Generationenfrage, denn AnatK. ist nur ein Jahr älter als der Staat Israel, und man kann wohl sagen, dass die beiden miteinander aufgewachsen sind. Wie das so ist unter Geschwistern, war das Verhältnis nicht ohne Spannungen. Wenn AnatK. aus ihrer Kindheit erzählt, kann kein Zweifel bestehen, dass ihre Eltern, Pioniere der ersten Stunde, das kleine Geschwisterchen, den Staat Israel, immer ein wenig lieber gehabt haben. Jetzt sind die Eltern tot, und die Verantwortung für die kleine Schwester ist auf AnatK. übergegangen. „In Gaza kämpfen wir ums Überleben“, sagt sie und drückt damit so etwas wie einen nationalen Konsens aus. Wie die meisten Israelis verfällt sie in die erste Person Plural, wenn sie von der Militäroffensive spricht. Wir – der Verteidigungsminister, die Soldaten im Feld und AnatK., daheim vor dem Fernseher.

Der Krieg schweißt die Nation zusammen, mehr als 90 Prozent aller Israelis sollen nach einer Umfrage der Zeitung „Ma'ariv“ die Offensive unterstützen. Dabei spielt die politische Orientierung fast keine Rolle. Auch AnatK. sagt, rechts sei sie nie gewesen: früher habe sie die linksliberale Meretz-Partei gewählt, dann die Arbeitspartei, schließlich Kadima. Sogar einen guten palästinensischen Freund habe sie gehabt, der ihr die Wohnung renovierte. Doch als es zum großen, unschönen Streit kam, wurde die persönliche Enttäuschung zur Enttäuschung mit dem palästinensischen Volk. Mit dem Mitleid ist es seitdem vorbei.

Wenn man sie auf die hohen zivilen Opfer in Gaza anspricht, kommt die Antwort ohne eine Sekunde des Zögern: „Darf ich erinnern, hier in Israel leben auch Zivilisten“, sagt sie. Es klingt sofort sehr aggressiv und ungeduldig. „Wenn in Afghanistan oder Afrika Zivilisten ums Leben kommen, interessiert das niemanden.“ Ihr Ärger nimmt zu. „Aber wenn es hier in der Region passiert, sind auf einmal alle ganz entsetzt. Welche Armee warnt die Bevölkerung telefonisch vor Luftangriffen? Doch nur wir, und trotzdem wollen uns alle irgendwelche Scheußlichkeiten anhängen. Dabei haben wir die Armee mit den höchsten moralischen Standards der Welt!“

Sie wisse, wovon sie rede. Denn wie fast jeder Israeli war auch AnatK. bei der Armee – doch das ist lange her. Damals, kurz vor dem Sechstagekrieg 1967, war die Zahal, so das hebräische Akronym für die „Armee zum Schutze Israelis“, noch eine andere Armee. AnatK. verbrachte den größten Teil ihrer Dienstzeit damit, auf der Wüstenfestung Masada im Sand nach alten Tonscherben zu suchen. Seit vier Jahrzehnten müssen junge Israelis in Uniform nicht nur ihren Staat vor Terroristen schützen, sondern leisten auch ihren Beitrag zur Besatzung der palästinensischen Zivilbevölkerung. Offiziell müssen sie dabei der Doktrin der Streitkräfte folgen. Dort steht: „Angehörige der Zahal benutzen ihre Waffen nur im Sinne ihres Auftrages und nur im notwendigen Maß. Sie behalten ihre Menschlichkeit selbst im Kampf. Soldaten der Zahal benutzen ihre Waffen nicht, um Menschen zu schaden, die Kombattanten oder Kriegsgefangene sind, und werden alles in ihrer Macht Stehende tun, deren Leben, Körper, Würde oder Eigentum keinen Schaden zuzufügen.“

Hehre Ideale – doch zweifeln heute viele, ob die Armee diesem Anspruch noch gerecht werden kann. Wenn aber eine Armee ihren moralischen Kompass verliere, sei es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Gesellschaft verrohe, fürchtet Jael Pas-Melamed, eine linksliberale Kolumnistin der Tageszeitung „Ma'ariv“. „In dieser Checkpoint-Kultur sind die Soldaten allmächtig. Das Westjordanland ist eine Umgebung, in der es für jede etwas komplizierte Situation menschlichen Zusammenlebens eine gewaltsame Lösung gibt.“ Den Arabern könne man ja mal zeigen, was ein richtiger Mann sei. Nach ihrer Entlassung aus der Armee würden diese ehemaligen Soldaten es dann ebenjenen Mitbürgern zeigen, die den gleichen Parkplatz wollten oder es auf den bequemeren Liegestuhl am Strand abgesehen hätten.

„So ist das in einem Besatzungsregime: Es macht aus guten Menschen erheblich weniger gute“, schrieb Pas-Melamed in einem ihrer Artikel. Es werde Zeit, dass die Armee sich dieser Probleme annehme, sonst müsse die israelische Gesellschaft sich bald vor sich selbst fürchten, prophezeite sie düster.

Für den Schriftsteller Etgar Keret und seine Frau Schira Geffen hat der Krieg im Gazastreifen der israelischen Gesellschaft diese Gefahr wieder einmal vor Augen geführt – nur leider wolle niemand sie wahrnehmen. In einem Kommentar machten die Eltern eines dreijährigen Sohnes Ministerpräsident Ehud Olmert einen Vorschlag – „von zwei Staatsbürgern, die ihn nicht mal gewählt haben: ,Wenn Sie auf einem Zettel alle politischen und militärischen Optionen auflisten, streichen Sie einfach diejenigen, bei denen die Gefahr besteht, Kindergärten auszuradieren. Das war's auch schon. Alle anderen Optionen können auf der Liste bleiben, sollten ernsthaft abgewogen werden, und dann entscheiden Sie sich für das, was Ihnen am besten gefällt. Aber wenn irgendwo die Möglichkeit besteht, eine zweistellige Zahl an Kindern umzubringen, dann, bitte, Herr Olmert, zücken Sie den Rotstift.'“

Die beiden sind sich ihrer scheinbaren politischen Naivität bewusst und meinen es dennoch sehr ernst. „Klar, unsere Feinde denken nicht so wir wie. Aber was soll's?“, argumentieren sie. Noch vor wenigen Jahren habe jeder Angriff, bei dem auch unschuldige Passanten ums Leben kamen, für eine Debatte in Israel gesorgt. In diesem Krieg nun würden Hunderte Zivilisten bei Angriffen der Luftwaffe getötet, und es gebe nicht den Funken eines Zweifels. „Es scheint, als ob sich die Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz schrittweise verlagert hätten, sodass wir heute Dinge leichter hinnehmen, die noch vor ein paar Jahren nicht toleriert worden wären.“ Sie fürchten, die israelische Gesellschaft sei einfach „frustrierter und abgehärteter“ geworden.



Das ist empirisch schwer nachzuweisen. Niemand könne wirklich wissen, welche Auswirkungen der Militärdienst und die Besatzungspolitik auf die Gesellschaft wirklich hätten, sagt die Psychologin Nufar Jischai-Karin. Denn ist der lebensgefährliche Fahrstil der Israelis auf die Besatzung zurückzuführen? In Rom und Mexiko-Stadt werde nämlich auch nicht besser Auto gefahren – ohne Besatzung. Es spielten dabei einfach zu viele Faktoren eine Rolle. Dennoch: „Dass viele ehemalige Soldaten unter ihren Erlebnissen leiden – seien es Kriegserinnerungen oder der Dienst in den besetzten Gebieten –, das ist Fakt. Auch die Beteiligten in meinem Bericht klagten über Schlaflosigkeit, Albträume, Angstzustände und Schuldgefühle.“

Mit ihrer Abschlussarbeit in klinischer Psychologie hat die zurückhaltende junge Frau in Israel viel Staub aufgewirbelt. Im Rahmen ihres Militärdienstes wurde sie 1990 im damals noch besetzten Gazastreifen als Beraterin eingesetzt, die Soldaten bei ihren Problemen helfen sollte. Schon damals habe sie gesehen, wie willkürliche Gewalt Teil des Alltags der Soldaten wurde, erzählt sie. Noch während ihres Militärdienstes hatte sie so ihr Forschungsprojekt gefunden. Für ihre Studie führte sie lange Gespräche mit 21 Soldaten, die sie aus ihrer Militärzeit kannte. „Sie kannten mich, und deshalb vertrauten sie mir. Irgendeinem Psychologen hätten sie nichts erzählt.“

Was sie ihr erzählten, war furchtbar: „Das Wichtigste ist, wie die Last des Gesetzes von dir abfällt“, zitiert sie einen Soldaten. „Du hast das Gefühl, du seist das Gesetz. Du bist das Gesetz. Du entscheidest. Du bist Gott.“

Ihr Bericht gleicht einem Horrorroman: Da gibt ein Soldat an, einer Frau mit einem Fußtritt in den Unterleib bleibende Schäden zugefügt zu haben und einer anderen Frau mit dem Gewehrkolben sämtliche Zähne ausgeschlagen zu haben, nachdem sie ihn angespuckt hatte. Einem harmlosen Palästinenser soll auf der Straße in den Bauch geschossen worden sein, ein gefesselter und geknebelter Gefangener wurde drei Tage lang in einer zur Einzelhaftzelle umfunktionierten Dusche vergessen. Jischai-Karin kam in ihrem Bericht zu einem schrecklichen Schluss: „An einem bestimmten Punkt ihres Militärdienstes hat die Mehrheit der Befragten es genossen, anderen Gewalt zuzufügen.“

Die Gründe dafür folgten durchaus normalen psychologischen Verhaltensmustern: „Gewalttätiges Verhalten war eine Möglichkeit, aus der Routine auszubrechen. Außerdem hatte die Armee die Truppen einfach sich selbst überlassen, sie waren viel zu lange ohne Training im Einsatz. Die Situation ermöglichte, ja provozierte solches Verhalten.“ An dem Verhalten der Soldaten sei deshalb an sich nichts Überraschendes. „Sie haben weder von vornherein ein höheres Gewaltpotenzial als andere Menschen, noch sind sie psychologisch resistenter gegen diese traumatischen Ereignisse, selbst wenn sie Täter sind.“

Solche Erkenntnisse schrecken die israelische Gesellschaft nicht zuletzt deshalb auf, weil die Zahal eine wahre Volksarmee ist. Männer leisten einen obligatorischen Militärdienst von drei Jahren, Frauen sind zu zwei Jahren verpflichtet. Bis zum 40.Lebensjahr müssen Männer der Armee alljährlich einen Monat Reservedienst opfern. Kritik an der Armee fällt vielen Israelis auch deshalb so schwer, weil sie und ihre Kinder selbst der Armee angehören. Für seine Mutter ist natürlich jeder Wehrpflichtige ein rücksichtsvoller Mustersoldat, welcher Vater möchte sich schon vorstellen, dass ausgerechnet sein Zögling an Checkpoints zum Spaß Araber quält?


Auch die Eltern von JonathanW. wissen nichts von dem, was er in seiner Armeezeit getan und gesehen hat. Sie wissen auch nicht, dass er sich irgendwann, ein Jahr nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst, an die Organisation Schowrim Schtika (Das Schweigen brechen) gewendet hat, um das Erlebte zu Protokoll zu geben. Mehr als 500 Zeugnisse von Soldaten hat Schowrim Schtika mittlerweile gesammelt. Es sind fürchterliche Geschichten darunter. „Immerhin war ich nicht gewalttätig“, versichert Jonathan, der heute an einer Dissertation über den amerikanischen Transzendentalismus arbeitet. „Aber ich habe es nicht gemeldet, als ein Kamerad auf dem Wachposten aus Langeweile mit scharfer Munition versuchte, den Fußball spielender Kinder zu zerschießen, und dabei ein Bein traf. Und ich habe mitgemacht, als mein Kommandant am Checkpoint einige alte Männer zwang, in eine Grube zu steigen und dort mehrere Stunden in der prallen Sonne zu stehen.“

Doch nicht aus dem Sinn gehen ihm die Augen eines kleinen Mädchens, dass eines Tages mit seiner Puppe den Checkpoint durchqueren wollte: „Ich kann nicht erklären, was mit mir passierte. Ich musste die Puppe natürlich auf Sprengstoff kontrollieren, das ist notwendig. Aber die Puppe war aus Stoff und ganz weich, und es war deutlich, dass da nichts drin war, und da habe ich trotzdem ein Messer genommen und ihr den Kopf abgeschnitten.“

Er schweigt. „Ich war 19 oder so und war von mir selbst schockiert. Seitdem weiß ich, dass hier nichts so eindeutig ist, wie man denkt. Ich bin ein Zweifler.“ Zweifler aber seien in Kriegszeiten nicht sehr gefragt. „Alle wissen es immer ganz genau: Der Krieg ist gerecht, für die zivilen Opfer ist die Hamas verantwortlich, die Welt ist gegen uns, und wir haben keine Wahl.“ Und das möge ja alles stimmen. Aber könnte es nicht auch ein bisschen falsch sein?

Dass heute kaum jemand in Israel diese Frage stelle, ja, dass sie den meisten Israelis illegitim erscheine, das mache ihm Sorgen. „Weißt du, was Ralph Waldo Emerson über den Patriotismus gesagt hat?“, fragt Jonathan dann. „Wenn eine ganze Nation aus vollem Halse Patriotismus brüllt, bin ich geneigt, die Reinheit ihrer Hände und Herzen infrage zu stellen.“

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